Schreiben

24
Sep
2015

Verstehen

Es ist traurig, wenn das Verstehen immer schwerer fällt. Es ist eine Frage des Alters und der damit verbundenen Beschwerden. Ich höre schlechter. Ich bemerke, dass ich oft genau die Konsonanten missverstehe, welche Bauchredner ganz bewusst einsetzen, damit sie nicht den Mund bewegen müssen.
Dann begreife ich langsamer, was ich nicht als Nachteil empfinde. Denn das langsamere Begreifen verschafft mir Zeit, sofort mehrere Assoziationen zu finden, die sonst aus Zeitmangel nicht weiter verfolgt werden könnten.
Was mich eher schmerzt, ist das schwächelnde Sprachverständnis. Das wird jemand mit großer Sprachbegabung und regem Geist vielleicht nachvollziehen können. Im Alter von vierzig Jahren konnte ich bei einem Geschäftsessen drei Gesprächen gleichzeitig zuhören, die in drei verschiedenen Sprachen geführt wurden. Natürlich hätte ich nicht das Gesprochene wiedergeben können, doch ich konnte verfolgen, ob irgendeines der Gespräche meine unmittelbare Beteiligung benötigt hätte. Beruflich war es für mich von großem Vorteil, denn ich konnte auf diese Weise auch Vorbehalte von möglichen Kunden einigermaßen erkennen.
Fünf Jahre später war es auch noch ansatzweise möglich, selbst wenn ich japanisch wirklich nur rudimentar im Vergleich zum damals noch flüssigem Russisch verstand.
Heute fünfundzwanzig Jahre später muss ich froh sein, wenn ich zwei Gesprächen auf deutsch soweit folgen kann, dass ich nichts wesentliches verpasse. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: ich spreche von beruflichem Smalltalk bei Abendessen und Banquetten. Im Einzelgespräch konzentriere ich mich in der Regel auf den Gesprächspartner und achte mehr auf die nonverbalen Kommunikationsmerkmale.
Inzwischen ist ja das Multitasking etwas aus der Mode gekommen. Es gilt eher als ineffizient. Dieser Darstellung kann ich durchaus etwas abgewinnen. Beim Klavierspielen hingegen müssen die zwei Hände sowohl zusammengehörig als auch unabhängig von einander geführt werden können. Das Letztere ist eine der besonderen Schwierigkeiten bei Stücken von Chopin, wenn "Rubato" angesagt ist.
Aber was verstehe ich schon vom Leben? Mittlerweile immer weniger. Ich verstehe zwar einige der Zusammenhänge, doch wenn ich die logischen Schlüsse ziehe, komme ich mir selbst nur mehr wie ein Verschwörungstheoretiker vor. Ich kann allerdings eines ins Treffen führen: es gibt kaum mehr vertrauenswürdige Medien. Oder anders ausgedrückt: was die Medien schreiben, scheint nur mehr das Resultat von sehr starken Beeinflussungen zu sein. Ich könnte das anhand von Beispielen aufführen, aber was brächte das? Von den richtigen Lesern wird das auch ohne Beispiele verstanden werden, oder?
Dieser Text ist ein Wort Beitrag zum Project
*.txt das dreizehnte Wort.



http://neonwilderness.net/2015/09/16/das-dreizehnte-wort-txt/
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14
Sep
2015

...

Das zwölfte Wort der famosen Reihe *txt: "Rausch". Siehe bei neonwilderness.

Den ersten Rausch, mit dem ich zu tun hatte, erlebte ich mit zehn Jahren. Später hatte ich unheimlich viele Formen von Rausch zu erleben, die ich nach den Substanzen einordnen könnte, welche den Rausch verursacht hatten. Ein weiterer Rausch, den ich hochgradig genoss, war der Geschwindigkeitsrausch. Doch über den möchte ich jetzt gar nichts schreiben.
Der Rausch, welcher den nachhaltigsten Eindruck auf mich hatte, war nicht durch Alkohol verursacht. Da gab es einen Whiskeyrausch mit Johnny Walker, den ich mit 22 Jahren hatte. Er verhinderte das Trinken von Whiskey für weitere 30 Jahre. Ähnliches könnte ich von einem Rum-Rausch erzählen. Der wirkte ebenfalls 30 Jahre.
Nein, der Rausch, von dem ich erzähle, war weitaus nachhaltiger. Man könnte sagen, dass er über 50 Jahre anhielt, ohne, dass es mir bewusst wurde. Erst heute, wo Rausch zum Thema wurde, wird mir bewusst, dass dieser Rausch bereits im Alter von zehn Jahren einsetzte und nie mehr seine Beeinflussung verringerte.
Tatsächlich war der Rausch ja vielleicht durch einen Katalysator verstärkt. Dieser Katalysator bestand aus unbeschränkten Mengen von Heidelbeeren.
Zerstampfte Erde, durchgetreten von schweren Kühen, teilweise mit schon zersetzten Kuhfladen, musste überwunden werden, um zu den Sträuchern zu gelangen, auf denen die blau-rote Köstlichkeit wuchs. Blau-rot, nicht blau-weiß. Blau-weiß, blaue Beere mit weißem Innenfüllung, heißt zwar Rauschbeere und kann schon größere Übelkeit hervorrufen, doch schon als Zehnjähriger wusste ich zwischen Heidelbeeren und Rauschbeeren zu unterscheiden. Manche behaupten ja, dass das Innenleben von Heidelbeeren auch blau ist. Ich habe es immer als rot angesehen, zumindest den Teil, den man sehen konnte, bevor man sie in den Mund steckte.
Jetzt habe ich aber schon geschrieben, dass es mir nicht um die Rauschbeere gegangen ist. Also was ist das jetzt mit dem Rausch.
Der Rausch war eine Lieblingspflanze meiner Mutter. Und er wuchs dort, wo auch die Heidelbeeren wuchsen. Dort wo die Sonne schien, den Boden wärmte und mitunter auch die Haut verbrannte. Dort, wo er eigentlich nicht gepflückt werden durfte, obwohl es noch nicht die verschiedenen Schutzkriterien gab.
Der Rausch ist für mich mit einer Gegend verbunden, in der heute viel besoffen wird, wo sich die high society herumtreibt und wo es Sommer wie Winter große Action und Geschäft gibt. Eigentlich ist der volle Name dieses Rausches der Almrausch oder auch die Rostblättrige Alpenrose. Aber das ist gar nicht so wichtig. Meine Eltern fuhren im Sommer mit mir auf den Hahnenkamm. Wir wohnten oben am Berg und es war traumhaft. Ich erinnere mich, dass ich nicht vertand, wie die Skilifte funktionieren könnten, denn die Sessel oder Schleppgarnituren waren im Sommer abmontiert.
Aber es gab Felsen, Moos, Gras, Kuhscheisse - und jede Menge Heidelbeeren und Almrausch.
Später habe ich dann meine unbewusste Begeisterung für Almrausch auf Flechten umgelegt, die ich am Großglockner fand. Aber im Sinne eines Rausches hat der Almrausch für mich Berg, Sonne, Schönheit, Kindheit und Ferien bedeutet.
Kinder erleben einen Rausch wohl anders. Und daher kann ich mich auch noch heute eine manche Einzelheiten erinnern. Und der Almrausch wirkte und wirkt auf mich durch die gewaltige Menge, die es von ihm gab. Er war das Kleid des Hahnenkamm. Der rote Dress eines Berges mit seiner eigenen Persönlichkeit.
Ich war später noch einige Male dort. Doch den Rausch erlebte ich mit zehn Jahren.
Almrausch
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18
Aug
2015

unvollständige Erzählung

Offensichtlich fange ich an, mich zu erholen. Langsam fliegen mir wieder neue Vorstellungen zu.

Zweite Erde
(der Titel müsste geändert werden, den gibt es nämlich schon)
Skizze zu einer Geschichte

Kotor

Es gibt eine berühmte kleine Kirche (inspiriert durch Kotor), in der sich unbeschreibliche Kunstwerke befinden sollen. Man muss zu Fuss hinauf, wobei man ca. einen Kilometer durch einen ziemlich steilen Tunnel gehen muss. Der ist beleuchtet, doch der Aufstieg ist sehr beschwerlich.

Oben gibt es Führungen, wobei interessanterweise die Führerin zuerst um die Kirche herumführt, da sich auch auf der Außenseite eindrucksvolle Skulpturen und Mosaike befinden. Eine Gruppe mit der Erzähler geht aber ohne Führung gleich in die Kirche, wo sich an den Wänden eine merkwürdige Variation der Passionsgeschichte befindet. Die Bilder zeigen alle unterschiedliche Geschehnisse aus der Geschichte der Menschheit, wobei das Leid im Vordergrund steht. Die Bilder haben eine besondere Eigenschaft. Sie verändern sich in Slow-Motion, wie wenn man einen Film Bild für Bild ablaufen sähe.
Die einzelnen Stationen führen historisch geordnet in die heutige Zeit. Syrien, Ukraine und eine Szene aus Tibet stellen die letzten Stationen dar. Als sich die Gruppe vor der letzten Station befindet, sieht der Erzähler, wie seine Begleiter nach und nach "aufgelöst" werden. Sie verschwinden. Er flüchtet zur Tür und kann gerade noch die Kriche verlassen, während die Führerin mit dem Rest der Gruppe in die Kirche eintritt.
Sie bemerkt sein Entkommen und spricht etwas in ein Funkgerät. (Dieser Teil der Geschichte wird erst später fortgesetzt, die Flucht des Erzählers und seine Recherchen und seine Wiederkehr in die Kirche.)
Er kommt vorläufig zuhause an und versucht diejenigen zu erreichen, die er selbst persönlich in der Gruppe gekannt hat. Es stellt sich heraus, dass er niemand erreichen kann. Als er bei den Telefongesellschaften anruft, erfährt er, dass niemand von denen einen Anschluss gehabt hat.
Er geht zum Arbeitsplatz eines Bekannten, der dort aber vollkommen unbekannt erscheint.
Weitere Versuche ergeben, dass niemand von denen, mit denen er in der Kirche war, je gelebt zu haben, scheint.
-
Er hat eine schwere Krise und lässt sich in eine Klinik für Geisteskranke einweisen. Er weiss, dass ihm niemand die Existenz seiner Freunde glaubt, bzw. glauben kann, denn es gibt keine Spuren von ihnen. Er kommt daher zu der Überzeugung, dass er halluziniert. Da er sich selbst sehr vernünftig aufführt, kann er seinen behandelnden Arzt seinen Verdacht auf Halluzination so glaubhaft schildern, dass er entsprechend behandelt wird. Allerdings kann der Arzt aufgrund einiger Tests feststellen, dass es keine Halluzinationen sein dürften. Daher entlässt er den Patienten mit dem Hinweis, sich selbst nichts daraus zu machen aber die Geschichten für sich zu behalten.
-
Er kehrt in sein normales Leben zurück, verwendet aber einige Energie darauf, die Besuche in die Kirche zu untersuchen. Es gelingt ihm, einige Personalien festzustellen. Er stellt fest, dass die Daten dieser Personen ungefährt zwei Stunden nach Abmarsch in den Tunnel verblassen. Nicht alle Daten gleichzeitig. Doch im Zeitraum von einer Viertelstunde sind alle Daten, die er vorher festgestellt hat verschwunden. Notizen, die er sich gemacht hat, verblassen nach ungefähr einem halben Tag.
Er fotografiert seine Notizen, doch selbst die Fotos verschwinden.
Er sucht sich Zeugen, die das Verschwinden der Notizen bemerken, doch dieselben finden eine ganze Reihe von Gründen, warum die Bilder verschwinden und wundern sich nicht.
-
Eines Tages legt er sich zum Schlafen nieder und wacht in einer fremden Umgebung auf. Ein anderer Raum, fensterlos, - nicht abgeschlossen. Er verlässt ihn, um die Umgebung zu erkunden. Als er über Treppen hinuntergeht, erreicht er eine Tür, die ins Freie führt. Er sieht eine Stadt mit lockerem Aufbau ohne Hochhäuser und mediterranem Anstrich. Es gibt Straßen, doch keine Autos oder andere maschinell betriebenen Fahrzeuge. Er weiß nicht, wo er hin soll. So macht er sich auf den Weg in die Richtung, in der er das Zentrum vermutet. Als er aus dem Haus kam, hatte er niemanden anderen sehen können. Nach ein paar Straßenkreuzungen, sieht er die eine oder andere Person, die ihn aber nicht zu bemerken scheinen.
Nach einiger Zeit bemerkt er jedoch, dass ihm jemand zu folgen scheint. Er kennt die Person. Es ist die Führerin, die damals beim ersten Kirchenbesuch, die Menschen herumgeführt hat.

P.S. Diese Geschichte hat nichts mit dem Buch zu tun, dass ich zu schreiben gedenke.
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15
Aug
2015

# 11

Mein Gott, ich habe heute wieder einen Schädel. Das darf ja nicht wahr sein. Was war denn da gestern eigentlich los? Das Lokal war ja wirklich super. Das gibt es wohl auch nicht so häufig, einen kleinen Laden in Leipzig (Absintheria), der so große Wirkung erzeugt. Das letzte Mal, zu Silvester 2010, war das anders. Nette Unterhaltung, Mords Spass und die Verkostung von vielleicht drei, maximal vier hochprozentige Absinthen.
Und heute ist es nicht auszuhalten. Dabei war das gar kein Absinth gestern, sondern Martini und Cinzano. Na gut, der Ausgangsstoff ist derselbe: Thujon, ein Öl was in Artemisia absinthium vorkommt. Also doch Absinth, oder?
Eigentlich sollte dann ja auch im Martini Absinthin vorhanden sein. Von der Appetitanregung habe ich nichts bemerkt, das mit der Verdauungsförderung scheint hin zu hauen. Sch....Wermut, im wahrsten Sinne des Wortes. Goethe hätte wahrscheinlich noch Schwermuth geschrieben. Aber ich sage gleich eines: umbringen werde ich mich deswegen nicht. Wichtig ist nur, dass ich den Schmerz loswerde. Naja, mit 600mg Ibuprofen wird es schon werden.
Aber eines weiß ich: das nächste Mal trinke ich nur mehr Absinth, nicht das schwache Zeug, das man dann erst recht in zu großen Mengen runterschüttet. Erinnert mich an ein Besäufnis in Krasnodar, wo die Bar nur mehr Amaretto zur Verfügung hatte. Das war am nächsten Morgen auch kein Kinderspiel. Aber von Schwermut war nichts zu merken.
Na gut, richtig schwermütig wird man auch vom Sch...Wermut nicht. Vor allem, wenn so nette Mädels dabei waren.

Das hier ist mein Beitrag zum Projekt *.txt auf neonwilderness. Es geht um das 11. Wort.
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17
Jul
2014

2041 Kapitel

Kurzbeschreibung, spielt im Jahr / in den Jahren, Link

Etwas stimmt nicht 2080
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041/main
Wie sieht es denn aus 2080
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-2/
Peter hat eine Waffe, ein interessantes Angebot 2080
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-3/main
Epilog 2081
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-4/main
Der Drachenkopf 2041
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-5/main
UNA und das Projekt 291040 2031
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-6/main
Wie schmuggelt man ein Programm 2031
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-7/main
Das Ender der Kriege 2041
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-8/main
Beginn und Ende einer Suche 2033
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-9/main
Der Drachenkopf wird größer, ein nicht stattgefundes Attentat 2080 / 2041
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-10/main
Auch Südamerika verhält sich sonderbar 2080 / 2041
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-11/main
Der Verlust eines interessanten Berufs 2080
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-12/main
Die Reise nach Alt-Wien beginnt 2080
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2014-13/main
Ankuft und Besuch eines Museums, 1984 2080
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-14/
Kontakt im Hotel Sacher 2080
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-15/
Veronika klärt auf - Lebensgefahr 2080
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-16/
Der Untergrund 2080
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-17/
Die Rückkehr ins normale Leben und eine erstaunliche Entwicklung
2080 / 2043 http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-18/
Wei Liu lernt seinen Nachfolger kennen 2043
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-2041-19/
Eine große Überraschung 2080
http://steppenhund.twoday.net/stories/aus-201420/
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Aus 2014/20

Die Inhalte der früheren Teile finden sich dort.

Es waren zwei Monate vergangen, in denen sich nichts Außergewöhnliches ereignet hatte. Hartmut hatte seine Erlebnisse in Alt-Wien etwas verdrängt. Er kümmerte sich um den Garten - gemeinsam mit seiner 20 Jahre jüngeren Frau und unternahm wenig außerhalb des Hauses und Garten.
Da trat eine unerwartete Veränderung ein, welche noch große Folgen haben sollte. Von einer seiner letzten Reisen war Peter nicht zurückgekommen. Im Allgemeinen war er nicht länger als vier Tage fortgeblieben, jetzt aber waren es schon zwei Wochen. Hartmut machte sich keine übermäßigen Sorgen, denn seit dem letzten Kontakt über den Infoautomaten in Alt-Wien hatte er Peter nur ganz selten von der Ferne gesehen und sich nicht mehr direkt mit ihm unterhalten.
Hartmut war allerdings sehr überrascht, als er ins Haus trat und seine Frau Tränen in den Augen hatte. "Peter is tot. Mit einem Flugzeug abgestürzt." Peter, der Nachbar, war auch der Bruder von Hartmuts Frau. Sie hatte offensichtlich eine Verständigung erhalten. Hartmut dachte in diesem Augenblick nicht daran, dass Flugzeugabstürze fast immer gesteuert waren. Vor allem waren in einem Flugzeug ja viele Passagiere und daher musste man den Absturz nicht gerade mit Peter in Verbindung bringen.
Marina hatte allerdings noch mehr Informationen. Sie bedeutete Hartmut, ihr in den Garten zu folgen. Dort saßen sie nun auf einer Gartenbank, in die Buchstaben eingeritzt waren. xyzzy. "Sie haben ihn entdeckt. Er hätte mehr über dich preisgeben sollen, als er tat. Es wäre besser gewesen, wenn er nicht verschwiegen hätte, dass Du dich mit Veronika getroffen hast." Hartmuts Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Vorerst konnte er keine Verbindung der Buchstaben mit Peter herstellen. Er erinnerte sich nicht einmal an die Dinge, die ihm Veronika zuletzt mitgeteilt hatte. "Es ist sehr schwer, für das System zu arbeiten und gleichzeitig dagegen zu agieren."
"Kannst Du mir bitte erklären, was Du meinst?" Hartmut war ziemlich ratlos. "Sagen dir denn die Buchstaben gar nichts?" Plötzlich ging Hartmut ein Licht auf. "Sie sagen mir schon etwas, aber was haben sie auf unser Gartenbank verloren?"
"Die Buchstaben sind der Code für eine Kontaktaufnahme. Die hätte im Bedarfsfall durch mich erfolgen sollen." Hartmut schaute seine Frau verblüfft an. Die attraktive, aber bis jetzt intellektuell unauffällige Hausfrau sollte eine Frau aus dem Untergrund sein. Und wie weit war da Peter involviert. Er musste nicht fragen. "Peter hätte natürlich auch Kontakt aufnehmen können, doch er musste viel vorsichtiger sein. Denn schließlich war er in das System komplett eingegliedert. Es ist klar, dass das System seine Mitarbeiter überwacht. Er hatte auch eine sehr hohe Einstufung. Die hat ihn aber nicht davor bewahrt, entdeckt zu werden. Vielleicht gab es einen anderen Grund für die Entdeckung. Aber es scheint mir so, dass sie aufmerksam geworden sind, weil er über dich nichts preisgegeben hat."
Hartmut schüttelte den Kopf. "Aber was hätte er den preisgeben sollen?" - "Einfach den Umstand, dass Du in der Barawitzkagasse 10 warst. Schließlich hast Du ja erlebt, wie schnell ihr von dort verschwinden musstet." Hartmut war noch ungläubig. "Aber wieso weißt denn dann Du davon?" - "Peter hat es mir erzählt. Vor mir brauchte er keine Geheimnisse haben. Aber er hat nicht geahnt, dass sie so schnell handeln würden. Sonst hätte er sich ja in den Untergrund flüchten können. Ein klare Fehleinschätzung."
Obwohl Hartmut schon vermuten konnte, was "schnell handeln" heißt, fragte er nach: "Und Du meinst, dass sie ihn umbringen wollten?"
Marinas Gesicht wurde ganz grau. "Natürlich. Es ist ihre Arbeitsweise. Steigt ein Risiko über eine gewisse Grenze, werden die betroffenen Personen eliminiert. Sie konnten Peter ja nicht anweisen, sich selbst umzubringen."
"Was bedeutet denn das schon wieder?"
Marina erklärte es ihm. Sie beziehungsweise das System bevorzugten sehr selektive Exekutionen. Die waren ohne Mithilfe möglich, wenn beispielsweise ein Fahrer allein in einem Auto sass. Andernfalls benötigte man Attentäter. Die Attentäter wurden mit allem versorgt, was sie benötigten. Interessanterweise kam es bei den betroffenen Opfern nie zu einer Verfolgung der Täter. Die Attentäter wurden sorgfältig ausgesucht und auf Loyalität und benötigte Kaltblütigkeit getestet. "Peter war ein major executor. Er war für die besonderen Fälle zuständig. Er wurde in Südamerika eingesetzt, vor allem in den Drogenkreisen. Keine ungefährliche Arbeit, aber er war einer der Besten. Wahrscheinlich hat er gedacht, dass sie seine Verdienste anrechnen würden." Sie machte eine Pause. "Im Übrigen habe ich dir das nie erzählt und Du weißt auch nichts über den Beruf von Peter. Würdest Du dich verraten, blüht dir und mir das gleiche Schicksal. Deswegen reden wir auch nicht im Haus drüber. Es ist anzunehmen, dass alles überwacht wird."
Hartmut fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor. Hatte er einen Schlaganfall oder war es nur eine vorübergehende Schwäche?
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31
Mai
2014

Paralipomena 2 (zu 2041)

Gestern bekam ich anlässlich einer Vernissage eine sehr wesentliche Anregung.

L'arte resta nel gesto, muore nella materia. Umetnost ostaje u nameri, umire u materiji.
(Die Kunst ruht in der Absicht (oder auch Vorstellung in der serbischen Version), sie stirbt in der Materie. [frei übersetzt HH])

Ich frage mich, wie es sein kann, dass die Kunst ausstirbt. Politiker und Verbrecher kann man erpressen. Aber die Erpressung versagt bei Künstlern. Die verhungern auch glatt einmal. Die Künstler wird man nicht ruhig stellen können, doch die Kunst selbst? Ja, das könnte funktionieren.
Möglicherweise wird es die persönliche Kunst geben, so wie es Künstler gibt, die einfach das produzieren, was sie produzieren müssen. Egal ob jemand zusieht oder zuhört. Doch die "offizielle" Kunst, die gefördert wird, die als Handels- und Spekulationsobjekt missbraucht wird, die kann man abdrehen.
Ich benötige ein brauchbares Konzept, denn sonst wären die Künstler die effizientesten Revolutionäre der Zukunft.
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21
Mai
2014

aus 2041/19

Wei Liu war mit den derzeitigen Entwicklung recht zufrieden. Eigentlich hätte er sehr zufrieden sein können, doch die Neugier, wer seine geheimnisvollen Auftraggeber waren, setzte ihm zu. Er hatte schon einmal um eine Audienz gebeten, diese war aber höflich und bestimmt verweigert worden.
Er holte Chen zu sich und bat ihn, Kontakt mit Han Sin aufzunehmen und wenn möglich ein Treffen mit ihn zu vereinbaren. Han Sin, dessen Name der eines berühmten Generals aus der Tan-Dynastie war und dessen Gruppe den Namen Sanddrachen führte, gehörte nicht zu Lius vergrößerter Organisation. Allerdings waren seit dem ersten Auftreten der geheimnisvollen Auftraggeber jegliche Querelen mit Mitgliedern dieser Truppe ausgeblieben. Ihr Gebiet war Shanghai und Umgebung, ihren Namen hatte sie vom Quarzsand, der wiederum mit Silizium in Assoziation gebracht wurde. Der Sanddrachen war spezialisiert auf Cyber-Kriminalität, Erpressung und politische Einflußnahme und es gab hier nicht so viele Berührungspunkte mit Lius Leuten, wenn man davon absah, dass alle Casinobenützer von Lius Glücksspielstätten in den Datenbanken von Han Sin gespeichert waren.
"Gehen Sie diplomatisch vor. Sie dürfen es als höfliche Bitte formulieren. Schlagen Sie den hölzernen Drachen vor, wenn Han Sin bereit ist nach Peking zu kommen. Andernfalls muss ich mir überlegen, ob ich einen Besuch in Shanghai riskieren kann."
Anschließend wählte er die bewusste Nummer. Die freundliche Damenstimme grüßte und setzte fort: "Wir sehen keinen Anlass für diesen Anruf." - "Ich habe eine Frage, die nur Sie beantworten können. Ich möchte mich mit Han Sin vom Sanddrachen treffen. Es wäre möglich, dass ich deswegen nach Shanghai reisen sollte. Bin ich da sicher und vor allem bin ich da auf der Reise sicher." - "Wir rufen Sie zurück. Es dauert nur einen Augenblick. Auf Wiederhören."
In fünf Minuten läutete das Telefon. "Guten Tag. Die Reise ist sicher, doch fliegen Sie nicht und fahren Sie nicht mit dem Zug. Mit dem Wagen wird es zwar beschwerlich, aber die Sicherheit kann gewährleistet werden.
Tausendzweihundert Kilometer auf der Autobahn war Wei Liu noch nie gefahren. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dies sicherer als Flug oder Zug wären, aber er hatte gelernt, dass es sinnlos war, die Informationen anzuzweifeln. Jetzt konnte er nur hoffen, dass Han Sin bereit war, nach Peking zu kommen.
Chen kam nach zwei Tagen zurück. Er war mit dem Schnellzug dreieinhalb Stunden gefahren und hatte sich dabei sehr wohl gefühlt. Es hatte einen Tag gedauert, bis er Kontakt zu Han Sin aufnehmen konnte. Als er aber eine unmittelbare Verbindungsperson ausfindig gemacht hatte, hatte es nur mehr eine Stunde gedauert, bis er Han Sin in dessen Residenz gegenüber saß. Zwar waren ihm die Augen im Fahrzeug verbunden worde, doch wurde er mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt.
Han Sin war jünger als Wei Liu, doch erschien er Chen wie ein jüngerer Bruder von Wei Liu. Er mochte um die fünfzig sein. Obwohl seine Sprechweise etwas von dem ursprünglichen Dialekt Shanghais durchschimmern ließ, sprach er ein sehr schönes Mandarin und Chen hatte keine Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Bestimmte Höflichkeitsphrasen verwendete Han Sin fast in der gleichen Verwendung wie Wei Liu. "Was führt Sie zu mir? Wie geht es Wei Liu?" - Chen war sehr überrascht, dass Han Sin diese persönliche Frage an ihn stellte. Was wusste Han Sin über Wei Liu? Kannte er ihn persönlich?
Chens Antwort kam sehr unsicher zurück: "Oh, danke der Nachfrage. Es geht ihm sehr gut." Er fragte sich, ob er ergänzen solle, dass Wei Liu "so menschlich" geworden sei. "Wei Liu hat eine Frage oder Bitte an Sie. Er würde sich gerne mit Ihnen treffen. Er schlägt einen bestimmten Treffpunkt vor und weiß aber nicht, ob Sie eine Reise nach Peking unternehmen wollten."
Über Han Sins Gesicht flog ein sehr kurzes Lächeln. "Und wenn ich Shanghai nicht verlassen wollte?" Chen war es peinlich, doch er brachte heraus: "Wei Liu hat es nicht so gesagt, doch ich habe den Eindruck, dass er sogar bereit wäre nach Shanghai zu kommen."
Han Sin schwieg. Nach einer langen Pause erwiderte er: "Genießen Sie doch Ihren Longjing-Tee. - Da ich der Jüngere bin, ist es wohl angemessen, dass ich mich auf den Weg mache. Nächsten Monat kann ich eine Reise einrichten. Bitte richten Sie Wei Liu den Dank für die Einladung und meine Bereitschaft, nach Peking zu kommen, aus." Der hartgesottene Chen, der in seinem eigenen Bereich als der gefürchteste Mitarbeiter von Wei Liu galt, spürte eine Erleichterung, die er sonst nie verspüren konnte. Dies war einer seiner schwersten Aufträge gewesen, auch wenn hier keine Lebensgefahr drohte. Der mögliche Gesichtsverlust hätte schwerer gezählt. Er wusste nicht, wie Wei Liu eine Ablehnung Han Sins aufgenommen hätte.
"Ich bedanke mich ausdrücklich und darf Sie jetzt so schnell wie möglich verlassen, um Wei Liu die Botschaft zu überbringen." - "Einer meiner Männer wird Sie zum Bahnhof bringen." Wieder wurden Chen vor der Autofahrt die Augen verbunden, allerdings durfte er nach zehn Minuten wieder frei sehen. Es gab einen Beifahrer, der sich mit einem Computer spielte. Nach fünf Minuten spuckte dieser über einen integrierten Drucker ein Blatt aus, das sich als Zug-Ticket herausstellte. "Wir sind ein bisschen knapp dran, daher haben wir Ihnen gleich das Ticket besorgt. Wir hoffen, dass Sie eine bequeme Fahrt haben werden." Aus alten Zeiten bot der Bahnhof die Möglichkeit mit Fahrzeugen bis direkt auf den Bahnsteig zu fahren, allerdings wurden auf diese Weise nur die ersten beiden Waggons erreicht. Chen stellte fest, dass sein Ticket auf die Premium Business Class ausgestellt war. "Sie werden keine anderen Personen im Abteil antreffen. Wir haben die restlichen Sitze blockiert." Chen bedankte sich und bestieg den Waggon. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, fuhr der Zug an. Als Chen auf die Uhr sah, bemerkte er, dass der Zug sieben Minuten zu spät war. Das passierte bei diesen Hochgeschwindigkeitszügen nie. Es wurde ihm bewusst, wie weit die Macht von Han Sin zu reichen schien.
Einen Monat trafen sich Wei Liu und Han Sin im Hözernen Drachen. Han Sin erwies Wei die Ehren, die dem Älteren gebührten. Wei Liu war überrascht, in seinem Gast einen sehr kultivierten Managertypen vorzufinden, der über beste Manieren und Kenntnis der chinesischen Tradition verfügte. Das Treffen gestaltete sich von Anfang an als freundschaftlich. Die Themen waren allerdings ohne größere Bedeutung, was sich änderte, als Wei Liu über den eigentlichen Grund seiner Einladung sprach. Da er von Chen gehört hatte, dass Han Sin sich nach seinem Befinden erkundigt hatte, hielt er sich nicht lange mit Vorreden auf.
"Sehen Sie, Han Sin, ich habe vor zwei Jahren den Ablauf in meinen Organisationen verändert und bin damit sehr gut gefahren. Außerdem haben sich meiner Organisation vier weitere angeschlossen, wobei man fast von Unterordnung sprechen könnte. Bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, Sie haben sich nicht angeschlossen und ich will Ihnen das gar nicht nahelegen. Aber ich frage mich, wie Sie zur Ausweitung oder auch Veränderung meines Geschäfts stehen, bevor ich Ihnen mein eigentliches Anliegen vortrage?"
Hans Sin lächelte kurz. "Verehrter Wei Liu, wissen Sie, dass Sie in unseren Kreisen als Weiser verehrt werden? Ihre Veränderung war spürbar und hat zu einer gesellschaftlichen Veränderung geführt. Das Wundersame dabei ist nicht die Veränderung selbst sondern das Tempo, in dem sie stattgefunden hat. Man könnte fast von einer Revolution sprechen. Eine unblutige." er setzte hinzu "oder fast unblutige."
Han Sin ergänzte: "Sie wissen, dass meine Agenden anderer Art sind. Wir haben nie Gewalt benötigt, daher war es auch nicht notwendig, einen engeren Kontakt mit Ihrer Organisation anzustreben. Sie können aber versichert sein, dass wir Sie respektieren und Ihnen freundschaftlich gesonnen sind. Im weiteren sind ja auch die Töpfe, aus denen wir unser Einkommen schöpfen, vollkommen unterschiedlich."
Wei Liu fand diese Antwort zwar sehr höflich, aber sie half ihm nicht, auf das eigentliche Anliegen zu kommen. "Haben Sie sich nie gefragt, wieso es zu dieser Revolution, wie Sie sie nennen, kommen konnte?"
Han Sin erwiderte sehr ernst: "Ihre Änderungen haben Ihnen zusätzlichen Gewinn gebracht. Da gab es nichts zu hinterfragen. Allerdings erstaunt es, wie zielsicher die Korrekturen in Ihrer Organisation stattgefunden haben." Er hätte auch sagen können, wie gerechtfertigt die Exekutionen einiger Bandenmitglieder gewesen waren.
"Haben Sie so vertrauenswürdige Informanten, dass Sie an all die wesentliche Informationen heran kommen?"
Wei Liu sagte langsam: "Über jedem Himmel ist noch ein Himmel." Dies war ein Zitat aus einer uralten Go-Legende und konnte unterschiedlich ausgelegt werden.
Han Sin schwieg.
Wei Liu schwieg.
Nach einer recht langen Pause meinte Han Sin: "Ich glaube zu verstehen."
Er ergänzte: "Wir erklimmen Stufen um Stufen, bis wir feststellen, dass wir den gleichen Berg besteigen."
Wei Liu fragte: "Sie auch?"
Han Sin antwortete: "Sie hat eine sehr angenehme Stimme."
Wei Liu fuhr fort: "Und Sie verstehen meine Neugier?"
Han Sin erwiderte: "Ich teile sie."
Daraufhin schwiegen wieder beide.
Wei Liu rief den Kellner. "Bringen Sie Sake!" Han Sin warf ein: "Bitte nicht für mich, ich trinke keinen Alkohol. Bringen Sie mir bitte Tee."
Wei Liu wies den Kellner an: "Vergessen Sie den Sake. Bringen Sie uns Longjing-Tee." Han Sin schmunzelte anerkennend. Natürlich hatte Chen erwähnt, was er bei Han Sin getrunken hatte.
Wei Liu seufte: "Ich hatte gehofft, dass Sie mir helfen könnten. Sie haben doch jede Information. Sie müssen unseren gemeinsamen Himmel doch kennen." - "Nein, ich kenne ihn nicht. Ich habe hier schon sehr viel geforscht. Ich kann Ihnen allerdings eines mitteilen. Wir haben auch Informationen vom russischen und vom amerikanischen Geheimdienst. Auch die UNA hat ihre Verfahren geändert. Insgesamt haben sie sich nicht sehr verändert, doch die Konsequenzen ihrer Auswertungen sind andere. Und es gibt eine sehr interessante Merkwürdigkeit. Weder Sie noch ich sind in den Aufzeichnungen der UNA aufgeführt. Wir scheinen für die Amerikaner nicht zu existieren. Und das, obwohl sie Aufzeichnungen über alle Politiker beliebiger Staaten haben. Ich verstehe, dass ich nicht aufscheine. Aber Sie sind ja inzwischen die Geheimregierung Chinas geworden - und ich sage das ohne Kritik. China wurde noch nie so gut geführt, wie zur Zeit. Entweder haben Sie eine ähnlich gute Informatik wie ich - was ich nach ihrer Fragestellung bezweifeln darf, oder sie bekommen Ihre Informationen von einer Stelle, die ausgezeichnet unterrichtet ist."
Wei Liu nickte bedächtig. "Und die Frage ist, wer hat die Information und so edle Motive?"
Han Sin stimmte zu: "Das ist die Frage!"
Jeder nippte an seinem Tee. Dann eröffnete Han Sin eine Sensation. "Man hat mich unterrichtet, dass viele Organisationen sich Ihnen anschließen werden. Gleichzeitig wurde mir aber mitgeteilt, dass ich das nicht tun müsste oder sollte. Unsere beiden Organisationen wären getrennt noch effizienter als gemeinsam. Daher habe ich davon Abstand genommen, den Gedanken weiter zu verfolgen."
Wei Liu verstand. Natürlich war die derzeitige Anordnung die bessere. Und innerlich lächelte er. Jetzt wusste er, wer sein Nachfolger werden würde.
Seinen Auftraggeber kannte er noch immer nicht.
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16
Mai
2014

aus 2041/18

"Passen Sie auf, ob in einer Konversation oder einer schriftlichen Nachricht der Code 'XYZZY' auftaucht. Das klingt sehr einfach, aber wir haben festgestellt, dass lange Codes nur Aufsehen versorgen, falls sie irgendwo in ein elektronisches Medium geraten. Dieser Code ist einer der ältesten und hat einmal zu einem Spiel gehört. Niemand kennt das mehr und vor allem nicht seine Funktion.
Jetzt machen Sie noch möglichst viel sight seeing und benehmen Sie sich wie ein neugieriger Tourist. Wenn Sie zuhause sind unternehmen Sie nichts, was Sie nicht in der letzten Zeit gemacht haben. Sie müssen aus dem unmittelbaren Beobachtungshorizont herausfallen, bevor wir sie kontaktieren können. Sie verstehen, warum das so sein muss?"
Hartmut nickte. "Bin ich jetzt in Lebensgefahr?"
"Hoffentlich nicht. Wenn Sie sich im Weiteren unauffällig verhalten, sollte das System keinen Verdacht ausweiten. Wir gehen beim Hintereingang hinaus."
Veronika zeigte ihm noch, wo es in Richtung Naschmarkt ginge. Der war zwar kein Markt mehr aber noch immer eine Sehenswürdigkeit wegen der Häuser, die ihn begrenzten. Hartmut sollte sich hauptsächlich in der Nähe von Sehenswürdigkeiten aufhalte.

Als Hartmut wieder bei sich zuhause war, grübelte er darüber nach, warum er Veronika gesagt hatte, dass er nichts über Geschichte wusste. Es stimmte, dass er nichts über lang vorüber liegende Epochen wusste. Doch seine Bücher, die er selbst besaß, berichteten eindeutig über eine Zeit vor dem Jetzt. Eine Zeit, in der Terrorakte passierten und die Menschen sich nicht vertrugen. Die Zeit, bevor Wolfram erpresst worden war.
Er fragte sich, ob der Ausdruck Erpressung zutraf. Wenn es eine Erpressung gegeben hatte, war danach alles zu besseren gesteuert worden. Doch wie er bisher verstanden hatte, war es die Sucht nach Eigentum, die die Menschen zu den ungeheuerlichsten Aktionen trieb. Kriege waren ein großer Gewinn für die so bezeichneten Kriegsgewinnler. Jetzt stellte sich die Frage, welchen Gewinn erhoffte sich der Erpresser, wenn er diese Gewinnquellen abdrehte.

Diese Frage hatten sich schon andere gestellt. Zum Beispiel Wei Liu hatte seit der Umstellung seiner Organisation große Gewinne gemacht, aber sie kamen aus anderen Quellen als bisher. Glückspiel wurde in manchen Ländern ja vom Staat direkt betrieben. Es konnte also nicht so kriminell sein. Den Mädchenhandel hatte er selbst nie besonders geschätzt, er gehörte nur dazu, um die niederen Chargen in seiner Organisation zu befriedigen. Wei Liu besaß Kunstwerke in seinem Haus. Darunter waren auch sehr wertvolle Kalligraphien mit Sprüchen von Kong Qiu. Das Gefühl verstärkte sich in ihm, dass der Spruch "Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir - für immer." mehr und mehr für ihn wirkte. Anfangs wurde ihm noch mehrmals im Monat bedeutet, dass bestimmte Personen zu liquidieren seinen. Die Frequenz nahm ab. Nach drei Jahren waren es nur mehr zwei Personen im Vierteljahr. Bei den Organisationen, die sich seiner angeschlossen hatten, war es ähnlich. Er hatte den Überblick, weil er die Namen weitergab.
Eines Tages beschloss er, ein Treffen zu organisieren. Da er wusste, dass er überall attackierbar war, rechnete er sich aus, dass er auch überall beschützt würde und hielt das Treffen im Hölzernen Drachen ab. Es waren sechs Leute zugegen, neben Wei Liu und Chen nahmen Yang Li und drei weitere Drachenköpfe teil. Der Geschäftsteil dauerte nur fünf Minuten. Alle Organisationen hatten ansehnliche Gewinne erwirtschaftet-
Danach wurde das Menü "Goldene Erde" mit dreiunddreißig Gängen aufgetragen und Fen-Schnaps zum Abschluss gereicht.
Bevor zum ersten Mal gemeinsam geprostet wurde, ergriff Wei Liu das Wort.
"Wie Sie wissen, hat sich einiges in unseren Organisationen geändert. Ich glaube, dass Sie mir zustimmen werden, dass wir uns verbessert haben. Darauf trinken wir." "Ganbei", - "Ganbei" ... ging es um den runden Tisch.
Wei Liu setzte fort. "Ich gehe davon aus, dass wir alles erreicht haben, was wir für uns wünschen. Gibt es jemanden, der Wünsche offen hat." - "bù shi", "bù shi", ... Alle verneinten.
"Die nächste Frage scheint überflüssig. Aber ich stelle sie jetzt und erwarte eine ehrliche Antwort: "Möchte jemand meine Position haben?" Es trat eine Stille ein, die mehrere Minuten dauerte. Dann meldete sich Chen. "Verehrter Meister. Nehmen wir an, ich würde das wollen. Woher würde ich dann einen Ersatz für mich finden?" Vier Personen schauten etwas betreten drein, doch dann sahen sie, dass ein leises Lächeln den Mund von Wei Liu umspielte. Darauf gab es ein lautes Prusten und Lachen der Erleichterung.
Wei Liu ließ die Bombe platzen: "Wir müssen etwas der Gesellschaft zurückgeben. Wir müssen die Armen unterstützen. Wie Sie gesehen haben, wird unethisches Verhalten bestraft. Wir haben bis jetzt immer gedacht, dass es uns zusteht, das Geld anzuhäufen. Wir haben rechtmäßig gehandelt, weil nur wir konsequent, mit Gesetzen und deren Durchführung handeln. Es gibt keine Korruption in unseren Reihen. Wir sind die bessere Regierung. Daher sollten wir von unserer Macht Gebrauch machen.
Ich habe für jeden von Ihnen ein Geschenk." Er winkte Chen, der widerum eine Handbewegung in Richtung Türe machte. Diese öffenete sich und einer der Chaufeure kam mit einer Schachtel herein. Yang Li und die anderen erblassten. Es war wie ein klassisches Exekutionsszenario wie sie früher üblich gewesen waren. Als der Deckel der Schachtel geöffnet wurde, war Erleichterung anzumerken. In der Schachtel befanden sich lediglich vier Schriftrollen. Chen stand auf und nahm eine nach der anderen heraus und händigte sie den übrigen Teilnehmern aus.
Wei Liu, dem die Besorgnis der Gäste nicht entgangen war, erklärte: "Diese Schriftrollen sind eine Kostbarkeit. Ich habe Sie von einem der größten Kalligraphie-Experten, die es heute gibt, anfertigen lassen. Sie finden darauf eine Weisheit von Kong-Qiu. Studieren Sie sie und handeln Sie danach. Ich bin sehr gespannt, welche Erfahrungen Sie damit machen werden, wenn Sie nach ihr handeln."
Die Gäste blickten verblüfft und ratlos. Keinem war es möglich, die Kalligraphien zu entziffern. Keiner wollte zugeben, dass er nicht wusste, was darauf stand.
Wei Liu meinte leichthin: "Sie verfügen über genügend Resourcen, um sich eines Kalligraphen zu versichern, der Ihnen die Weisheit deuten wird. Glauben Sie mir, es steckt ein sehr tiefer Sinn darin. Ich selbst beginne gerade, die außerordentliche Macht zu erkennen, die darin steckt. Ich teile diese Macht gerne mit Ihnen.
Wir treffen uns in drei Monaten wieder. Dann sprechen wir über ihre Erfahrungen."
Als Wei Liu nach Hause gekommen war, überfielen ihn Zweifel. Hatte er richtig gehandelt? Was würden seine unbekannten Auftraggeber sagen? Er musste nicht lange warten und sein Telefon läutete. Am Apparat war eine Frauenstimme. "Guten Abend. Sie haben heute etwas begonnen, von dem nicht bekannt ist, welche Auswirkungen zu erwarten sind. Wir hätten es nicht von Ihnen erwartet, dass Sie einen derartigen Alleingang unternehmen. Für uns ist es sehr interessant, was heute passiert ist. Wir werden es weiterhin verfolgen. Wir sind nicht einverstanden damit, dass Sie so gehandelt haben. Wir haben allerdings eine ähnliche Aktion von Ihnen erwartet, welche war unbekannt. Der Umstand, dass Sie etwas machen, was sich gegen unsere Interessen richten könnte, war Grund, Sie für Ihre Rolle auszusuchen.
Wir haben beschlossen, unser Vertrauen in Sie zu vergrößern. Sie werden dies anhand eines Geschenks sehen, welches Sie in Kürze erhalten werden. Guten Abend." Unmittelbar nach ihrer Ansprache legte die Frau auf. Gleich darauf läutete es noch einmal. Es war Chen. "Ein Geschenk ist für Sie abgegeben worden. Keine Waffe, keine Chemikalien. Es sieht aus wie ein Buch." - "Gut, bringen Sie es mir."
Als Wei Liu das Buch in den Händen hielt, lächelte er mit ernstem Gesicht, nur seine Augen lächelten, sein Mund verzog sich nicht. Er hielt ein Buch in Händen, dass er als Zwanzigjähriger zum ersten Mal gesehen hatte. Durch eine Plexiglasscheibe, gesichert durch eine Alarmanlage, war das Exponat mit "Mawangdui Seidentexte" beschrieben gewesen. Jetzt befand sich in seinen Händen eine der ältesten Niederschriften des I-Ging. Im Behälter, in dem das Buch gewesen, befand sich ein kleiner Zettel. "Bitte möglichst verschlossen aufbewahren, Temperatur 18% C, Luftfeuchtigkeit 42%. Möge Ihnen Lao-Tse ebenso zusagen wie Konfuzius."
Vorsichtig legte Wei Liu das Buch wieder in den Behälter, nachdem er zuvor den Zettel herausgenommen hatte. Er rief Chen. "Bitte versorgen Sie das sorgfältig und besorgen Sie mir ein Buch der Wandlungen, dass ich lesen kann."
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Wir sollten mehr hergeben, wo kam das sonst noch vor?





xyzzy war ein Magic Word, welches es ermöglichte in einem der ersten Computerspiele aus einem Labyrinth ununterscheidbarer Gänge heraus zu kommen.
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15
Mai
2014

aus 2041/17

Für meine drei urgierenden Leserinnen und Leser

"Sie müssen sich Folgendes vorstellen:
Unsere Infrastruktur funktioniert hervorragend. Darüber kann kein Zweifel bestehen. Viele untergeordnete Tätigkeiten werden von Maschinen durchgeführt, die anscheinend kaum Wartung benötigen. Wie viel Einwohner hat die Erde zur Zeit?" Hartmut meinte: "Heute weiß ich es gar nicht. Als ich noch arbeitete, gab es eine Zahl von neun Milliarden."
"Ja, es sind auch heute noch neun Milliarden, so ungefähr. Und diese Zahl scheint nicht zuzunehmen, obwohl wir keine Kriege mehr kennen. Können Sie sich vorstellen, wie man neun Milliarden Menschen zufriedenstellen kann, ohne dass Sie irgendwo Revolutionen oder unzufriedene Menschen haben? Es ist eigentlich unmöglich, dieses als wirklich anzunehmen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder werden die Informationen, die zu uns gelangen, gefiltert oder es gibt ein überdimensionales Kontrollsystem, welches alle Konflikte bereits im Ansatz regelt. Was wissen Sie über Geschichte?"
Hartmut dachte nach: "Eigentlich nichts. Das ist ja der Grund, warum ich nach Quellen suche."
"Sehen Sie, das ist der springende Punkt. Es gibt keine Quellen mehr. Mit ganz wenigen Ausnahmen. Früher haben die Kinder noch Geschichte gelernt. Sie haben über Kriege erfahren und über die grenzenlose Unbelehrbarkeit der Menschen, welche dieselben Fehler in allen Zeiten wiederholt haben. Die Gründe waren meistens die gleichen. Jemand wollte Macht. Warum er das wollte, war durch wenige Auslöserfaktoren begründet. Manchmal war es nur ein kleiner physischer Defekt, den der Betreffende kompensieren wollte. Manchmal war es einfach der Wunsch nach Besitz, nach Geld, mit dem man sich Sex kaufen konnte. Dazu kam noch der Wunsch nach Unangreifbarkeit. Das alles haben die Kinder gelernt. Heute wissen es nicht einmal die Erwachsenen. Sie erfahren nichts und sie können es auch nirgendwo nachlesen. Können Sie mir folgen?"
Hartmut nickte: "Aber woher wissen Sie denn das alles?"
"Wir sind die 'Bösen'. Wir lehnen uns gegen das System auf. So wie wir es immer getan haben, als Anarchisten, als Rebellen. Doch mittlerweile hat sich unser Beweggrund geändert. Wir rebellieren nicht mehr gegen das System. Das wäre absolut zwecklos. Es ist stärker. Wir haben viele Freunde verloren, wobei wir am Anfang gar nicht wussten, wie sie enttarnt wurden. Es gab auch keine Verfolgung. Die Freunde verschwanden einfach."
Hartmut schüttelte bedauernd den Kopf: "Und was ist Ihr Beweggrund heute?"
"Dazu später. Ich frage Sie, warum sind die Menschen heute zufrieden? Warum heute, warum nicht früher?"
Hartmut hatte keine Antwort.
"Sie kennen nur ihr derzeitiges Leben. Sie haben keinen Hunger, sie haben Spiele, es wird ihnen nicht langweilig - außer Ihnen, wie es scheint - und daher gibt es keinen Grund, irgendetwas zu hinterfragen. Und es gibt keinerlei Reize von außen, die einen Denkvorgang in Gang setzen könnten."
- "Aber es gibt doch Menschen, die arbeiten und die denken müssen. Ich habe schließlich auch gearbeitet."
"Ja, Sie haben gearbeitet. Es braucht ein paar intelligente Menschen, die gescheit genug zum Arbeiten sind, aber sonst nichts hinterfragen. Mit ihren statistischen Daten hätten Sie sich einige Fragen stellen müssen. Doch durch die Medien werden Sie kontinuierlich davon abgehalten."
Hartmut musste das zugeben, er tat es aber nur im Stillen und sagte nichts.
"Wollen Sie 1984 wirklich lesen? Sie würden nicht die Information erhalten, die sie suchen. Das Buch schildert nicht die Vergangenheit. Es schildert eine Zukunft, die damals als negativ empfunden wurde. Das herrschende Regime bestimmte über die Geschichtsschreibung. Alles was nicht zu seiner Unterstützung passte, wurde gelöscht oder umgeschrieben. Und die Sprache wurde auf einfache Konstrukte reduziert. Mehr werden Sie in dem Buch nicht finden. Aber das reicht schon. Denn die Geschichte mit der Geschichtsumschreibung hat stattgefunden. Mit dem Ergebnis, dass es überhaupt keine Geschichtsschreibung mehr gibt."
Hartmut fühlte, wie ihm der Boden unter den Sesselbeinen entschwand. Er hatte Angst zu fallen.
"Es gibt ein zweites Buch dieser Art, 'Schöne Neue Welt'. Aus diesem Buch kann man entnehmen, dass die Leute mit Drogen ruhig gestellt wurden. Auch dieses Detail gibt es in unserer realen Welt. Und in einem dritten Buch 'Fahrenheit 451' werden Bücher als Quelle allen Unheils gesehen und verbrannt. Der Unterschied zu heute ist, dass dieses Verbrennen nicht mehr öffentlich stattfindet. Die Bücher werden entsorgt, nachdem sie in Computer eingescannt wurden. Niemand befürchtete, dass der Inhalt der Bücher verloren gehen würde. Doch die eingescannten Bücher waren später nicht mehr zugreifbar."

Hartmut fragte: "Aber Sie sind doch jung, woher können Sie dann wissen, was war?"
Veronika erwiderte: "Sagt Ihnen der Name Goethe noch etwas." Hartmut erinnerte sich ganz dumpf, dass er den Namen schon einmal in seiner Kindheit gehört hatte. Sonst hatte er keine Assoziationen.
"'Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.' So beschreibt sich der Teufel selbst im Hauptwerk von Goethe. Wir waren einmal die Bösen. Wir mussten uns verstecken und tarnen. Das bedeutete, dass wir auch von allgemeinen Netzwerken isoliert waren. Nachdem wir selbst Viren erzeugten - das war vor 60 Jahren - wussten wir von der Gefahr einer Gegeninfiltration. Unsere Hauptcomputer waren nie an öffentlichen Netzen. Es gab Pannen. Einmal um 2045 hatte einer unserer Kollegen unvorsichtigerweise beim Auskundschaften eines Infoautomaten eine Sicherheitsvorkehrung außer acht gelassen. Er selbst und dreißig seiner Mitarbeiter, die in seinem Rechner mit Adressen existierten, verschwanden innerhalb von einem Monat. Seither wussten wir, wie gefährlich eine Interaktion mit dem System sein konnte."
Der Mann von vorhin kam in die Küche. Ganz ruhig meinte er: "Wir haben 28 Minuten Zeit, die Zelte zu räumen. Unsere Adresse ist aufgeflogen. Vermutlich wegen der heutigen Aktion. Ihr werdet den kürzesten Weg zu K1 nehmen. Wir anderen müssen noch zusammen packen."
Veronika packte Hartmut am Arm: "Kommen Sie, wir müssen schleunigst verschwinden." Sie zog eine weitere Perücke an, diesmal rötlich und eine Brille, wie sie gerade in den Innenstädten modern war.
"Wir müssen Sie auch noch verkleiden." Hartmut bekam einen Mantel und einen Bart angeklebt, der im Vergleich zu seinem eigenen wesentlich länger war, vor allem aber schwarz und nicht grau. Ein Hut verdeckte die Konturen seines Haaransatzes.
"Wir haben einen Vorteil und eine Chance. Das System setzt nie besonders effiziente Verfahren ein, wenn es um Alarmfälle geht. Wir sind jetzt ein Alarmfall. Wahrscheinlich kommen nur ein oder zwei Personen, mit Hochleistungskameras bewaffnet, welche die Identität der hier befindlichen Menschen erfassen wollen. Die eigentliche Exekution erfolgt später. Unser Hauptinteresse besteht also darin, unerkannt zu bleiben. Unsere Tarnung ist nicht besonders leistungsfähig, vor allem weil die Körpermaße und Bewegungsabläufe vermessen werden. Wir können hoffen, dass es für Sie noch keine Vergleichsmaße gibt. Ich gebe Ihnen einen Straßenplan. Die neue Adresse ist leicht zu finden. Sie müssen in spätestens 15 Minuten dort sein. Treffen Sie später ein, müssen wir davon ausgehen, dass Sie vom System als Spion eingesetzt werden. Alles klar?"
"Nein, was mache ich, wenn ich an der Adresse angelangt bin?" - "Das ist eine alte Schule. Das Haupttor ist offen. Anschließend gehen Sie in den Keller, nicht zu verfehlen. Wir sammeln Sie dann schon auf."
Hartmut fühlte sich plötzlich sehr unsicher. "Ich soll wirklich allein gehen?" - "Das ist die einzige Möglichkeit: Paare sind verdächtig, es sei denn sie fahren auf dem Rad. Aber Rad fahren werden Sie ja nicht wollen." Hartmut verneinte: "Und wie komme ich jetzt hier raus?" - "Kommen Sie. Sie gehen hier hoch und wenn Sie oben sind gehen Sie durch das Haus durch und beim Eingangstor können Sie das Gelände ohne Probleme verlassen." Sie zeigte auf eine langgezogene Treppe. Diese war ursprünglich einmal eine Materialrutsche gewesen, auf der Sauerkraut in eine im Keller befindliche Produktion angeliefert wurde.
Hartmut stiefelte hoch. Es war beschwerlich, die Treppe war doch ziemlich lang. Als er oben ankam, befand er sich in einem Innenhof. Er erkannte das Haupthaus an seiner grünen Farbe und betrat es durch die Hoftür. Als er auf die Barawitzkagasse trat, erinnerte er sich an den Stadtplan. Er wandte sich nach links und an der Kreuzung mit der Döblinger Hauptstrasse wieder nach links. An der Pyrkergasse musste er rechts einbiegen, die zweite linke Abzweigung war bereits die Kreindlgasse. Die Schule war deutlich sichtbar. Er hatte 12 Minuten gebraucht. Alles lief so wie vorherbesprochen. Als er auf der Kellerebene war, öffnete sich eine Tür und zog ihn in den Raum. "Das haben Sie ja brav geschafft. Passen Sie auf. Mit der weiteren Erklärung müssen wir ein bisschen warten. Wir müssen jetzt an ihrem Alibi basteln. Wir machen das so. Wir bringen Sie nach Heiligenstadt. Das wird ein bisschen aufwendig sein. Auf der U-Bahnstation setzen wir Sie auf eine Bank und Sie dürfen ein bisschen schlafen. Nur ein paar Minuten. Es ist eine bestimmte Bank, denn die Kamera mit der diese Bank überwacht wird, können wir beeinflussen. Es wird so aussehen, als hätten Sie zwei Stunden geschlafen. Dann fahren Sie mit der U-Bahn zurück zum Karlsplatz und gehen ins Hotel. Ich werde morgen wieder mit Ihnen Kontakt aufnehmen."
"Werden Sie nicht mit mir nach Heiligenstadt gehen?" - "Wo denken Sie hin. Das wäre viel zu auffällig? Nein, Sie werden sich ein bisschen klein machen müssen und sich in einer Maschine verstecken. Die Verkleidung können Sie wieder ablegen. Ab jetzt sind Sie wieder sie selbst. Kommen Sie!"
Sie führte ihn zu einem Hinterausgang der Schule. Dort stand eine große, gelbe Reinigungsmaschine, wie sie zum Säubern der Stadt benutzt wurden. Es gab einen Abfallbehälter, der ausreichte, einen zusammengeknautschten Hartmut aufzunehmen. "Die Route ist programmiert. Die Reinigungsleistung ist auf minimum gestellt. Ein bisschen Dreck wird zu Ihnen kommen, aber nicht viel. Wenn es drei mal summt, können Sie den Behälter aufdrücken und aussteigen. Sie werden bei einer Fluchtstiege ankommen, die sie hinaufgehen können. Dann setzen Sie sich auf die zweite Wartebank und machen einen schlafenden Eindruck. Mit der nächsten oder besser der übernächsten U-Bahn fahren Sie dann zurück. Geben Sie vor, versehentlich eingeschlafen zu sein. Falls Sie von einem Bekannten gefragt werden, was Sie gemacht haben, vermeiden Sie jeden Hinweis auf Spaziergang oder B1. Natürlich auch nicht K1.
Tja, Sie sind jetzt mitgehangen, mitgefangen. Ich hoffe, Sie lieben Abenteuer. Ihr Leben wird fortan etwas 'interessanter' sein." Sie sprach das 'interessanter' mit einem leicht spöttischen Unterton.
Hartmut kletterte hinein. Die Maschine machte sich auf den Weg. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie stehen blieb und drei Summtöne hörbar wurden. Hartmut, der bisher noch nicht gewusst hatte, was Klaustrophobie war, war heilfroh, endlich seinem Verschlag entkommen zu können. Er wartete am unteren Ende der Treppe, weil er noch sehen wollte, wie die Maschine weiterfuhr. Danach stieg er hoch und setzte sich auf die Bank. Er war wirklich etwas müde. Er traute sich kaum, die Augen zuzumachen, weil er befürchtete, dann zu lange zu schlafen. Er war sehr froh, als endlich die zweite U-Bahn kam. Er rieb sich die Augen und hastete zu den Waggons. In der U-Bahn fühlte er sich sicher. Er gehörte wieder zum System.
Das Gefühl der Sicherheit war wärmend. Doch umso abrupter war sein Ende, als er in seinem Hotelzimmer auf dem Bildschirm einen Anruf empfing. Das Bild zeigte Peter. "Schönen Tag gehabt? Was hast Du gesehen?" - "Nicht viel. Vormittags war ich im Museum und nach dem Mittagessen fuhr ich nach Heiligenstadt." - "Aha, Du wolltest wohl die Barawitzkagasse aufsuchen." - "Hätte ich vielleicht gemacht, doch plötzlich war ich so müde, dass ich mich hingesetzt habe. Ich muss wohl zwei Stunden auf der Bank geschlafen haben. Danach war meine Initiative auf null und ich bin zurück ins Hotel gefahren. Das waren ziemlich leere Kilometer." Auf dem Gesicht von Peter zeigte sich fast unmerklich eine leichte Enttäuschung. "Du warst nicht dort?" - "Wo meinst Du?" - "Barawitzkagasse 10" - "Nein, aber wenn Du so fragst, dann weißt Du vielleicht, was ich dort vorgefunden hätte." - "Darf ich dir nicht sagen. Hast Du nicht den Hinweis gelesen, dass es sich um 'klassifizierte Information' handelt?" - "Doch, aber damit konnte und kann ich nichts anfangen." - "Das ist gut so. Du solltest damit überhaupt nichts zu tun haben. Obwohl ... " Peter lächelte etwas säuerlich. "In deinem Beruf hattest Du nur mit klassifizierter Information zu tun." - "Aha, soll sein. Mir bedeutet der Ausdruck trotzdem nichts." - "Nun ist ja gut, viel Spass noch morgen! Guten Abend, ciao."
Hartmuts Puls und Blutdruck waren gestiegen.
Was er heute nachmittag gehört hatte, war schon beunruhigend genut, aber dass Peter so genau Bescheid wusste, setzte eine Überlegungen in Bewegung. Peter, 'sein Freund', war offensichtlich Teil des Systems. Ein System, welches alles fast lückenlos überwachte. Peter wusste über die Barawitzkagasse Bescheid. Hatte er den Alarm ausgelöst. Konnte Peter ein so umfassendes Wissen über seine Person und seine Aktivitäten haben? Er entnahm der Minibar noch eine Flasche Wein und trank sie leer um daraufhin in einen unruhigen Schlaf zu verfallen.
Als er in der Früh aufwachte und sich anzog, entdeckte er einen Zettel in seiner Hosentasche. "Gusshausstrasse 25, 11:00. Verwenden Sie keinen Infoautomaten. Sagen Sie dem Kellner, dass Sie vorhaben, ein bisschen die nähere Umgebung zu erkunden. Vernichten Sie diesen Zettel. Wenn Ihnen der Kellner einen Navigator aufdrängt, nehmen Sie in dankend an aber 'vergessen' Sie ihn in ihrem Zimmer." Er verspürte etwas wie Freude und überraschte Neugier, aber auch ein bisschen Zufriedenheit. Es würde weitergehen.
Beim Frühstück drängte ihm der Kellner den Navigator auf. Hartmut wollte ihn nicht annehmen, doch dann erinnerte er sich an die Anweisung. Er sah den Ausdruck von Erleichterung in den Augen des Kellners, als er den Navigator einsteckte.
Um halb elf machte er sich auf den Weg. Er spazierte an der Karlskirche vorbei, verbrachte dort aber fünf Minuten, um den Eindrück des Touristen zu vermitteln, dann schlenderte er in der Karlsgasse weiter. Kurz bevor er die Gusshausstrasse erreichte, kam ihm ein junges Mädchen in Leggins und einem T-Shirt mit der Aufschrift 'Citizen of Vienna' entgegen. Als er an ihr vorbei ging, packte sie ihn an Arm und drückte ihn gegen die Hauswand. "Einen Moment!" Sie zog einen Schlüssel hervor und öffnete die Eingangstür zu einem ehemaligen Gasthaus. "So da hinein!" Sie verschloss die Tür von innen und drängte ihn, zum hinteren Gastraum weiter zu gehen. Als er sich niedersetzte und sie genauer ansah, konnte er seinen Augen nicht trauen. Das war Veronika, sichtlich mindestens 12 Jahre jünger. Vielleicht die Schwester. Das Mädchen schmunzelte. "Ich bin es schon selber!" Sie lachte ihn aus. "Also verlieren wir keine Zeit. Wir haben hier ungefähr eine Stunde Zeit. Also besser ist es, wenn wir vor 45 Minuten hier abhauen."
Hartmuts Gesicht war das der reinen Verblüffung.
"Okay. Machen wir weiter. Wie gesagt, wir waren die Bösen. Was wir heute sind, ist nicht so leicht zu sagen. Wir planen keine Terrorakte. Wir wollen nicht das System angreifen. Wir wollen uns nur außerhalb des Systems bewegen können. Unüberwacht. Und wir wollen die Geschichte des Menschen bewahren. Um das zu tun, müssen wir uns der allgemeinen Überwachung entziehen. Und das ist verdammt schwierig geworden."
Hartmut nickte.
"Überwachung hat es schon immer gegeben, doch schien es in der Vergangenheit nicht möglich, die Vielzahl der Daten entsprechend auszuwerten. Das hat sich geändert. Irgendjemand verfügt über derart leistungsstarke Computer, dass die Verbindung von scheinbar unzusammen hängenden Daten sichtbar wird."
Veronika dachte etwas nach. "Zwischen den Daten und einer vernünftigen Auswertung gab es immer eine Verzögerung. Diese Verzögerung ist aber so kurz geworden, dass es den Anschein hat, dass die Auswertung sofort existiert. Und es könnte sein, dass Sie uns dabei helfen können, hier etwas Licht in die Sache zu bringen. Es geht um Statistik und Vorhersagen. Es scheint uns nämlich, dass das System bereits im Vorhinein weiß, wo es besondere Überwachungen anbringt."
"Und was könnte ich dabei helfen?"
"Sie könnten eine Antistatistik entwickeln! Sie müssten eine Anordnung entwickeln, welche Daten so in das System einschleust, dass normale statistische Auswertungen nicht mehr zutreffen. Wir wissen, dass es gehen müsste, aber wir kommen nicht an Wissenschaftler heran, die es könnten. Sie sind ein Glückstreffer für uns, wenn Sie sich entscheiden, uns zu helfen."
"Aber das geht doch nicht, ich habe keine Rechner mehr und ich kann nicht dauern in Alt-Wien bleiben."
"Das lassen Sie unsere Sorge sein. Es ist sehr schwierig, eine Kommunikationslinie zu Ihnen und Ihrem Haus aufzubauen. Aber wir werden das schaffen. Halten Sie aber dicht gegenüber Peter und Ihrer Frau, von der wir nicht wissen, wie wir sie einzuschätzen haben. Werden Sie uns helfen?"
Hartmut nickte. Mitgehangen, mitgefangen. Es war seine Neugier gewesen, die in nach Alt-Wien gebracht hatte. Zumindest wusste er jetzt, dass 'etwas nicht stimmte'. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen.
"Wie werde ich es merken, wenn Sie Verbindung mit mir aufnehmen?"
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lamamma - 26. Mär, 15:30
Wobei nähen sich ja viel...
Wobei nähen sich ja viel direkter geboten hätte.
Schwallhalla - 26. Feb, 10:30

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