5
Dez
2010

4. Fortsetzung 1784

Was zuvor geschah

Seite 10,11 von 33


Dieser Sommer war besonders heiss, und manchen Sonntag ergötzten sich die Kinder am Bache, die Glieder in dem kühlenden Wasser zu baden.
Einst überredete ein älteres Mädchen unser Seferle, bei einer gefährlichen Stelle zu baden. Der Bach war an diesem Tage besonders reissend, da die Woche vorher starke Wolken in den Bergen sich entleert hatten.
Ueber das Wasser führte ein einzelner grosser Baumstamm, die Kinder gingen darüber, entledigten sich jenseits im Gebüsche ihrer Kleider, und sprangen in die frische Fluth.
Serverle nahm nun den quer liegenden Stamm unter das Aermchen, und wagte sich bis in die Mitte des Baches.
Hier jedoch war die Strömung so heftig, dass sie nicht länger Widerstand leisten konnte, und den Baum loslassend, nun wie ein Laub von den Wellen fortgetragen wurde.
Die Besinnung schwand, nichts war ihr später erinnerlich, als einen wunderhübschen Gesang, ein Brausen in den Ohren gehört zu haben, das immer schwächer und schwächer wurde. - -
Als sie wieder die Augen aufschlug, lag sie am Rasen, weit, weit weg von der Stelle, an welchen der abgehauene Baumstrunk die Brücke bildete.
Das ältere Mädchen hatte mit unglaublicher Geistesgegenwart, Besonnheit, und fast übermenschlicher Kraftranstrengung die kleine Freundin den Wellen und dem sichern Tode entrissen.
Rührend war ihre Freude, als sie über den leblosen Körper angstvoll gebeut, bemerkte, dass dessen Lebensgeister wieder den Einzug hielten.
Es war die höchste Zeit, noch ein Moment, und – diese Erzählung wäre nicht geschrieben worden.
Und wäre das Kind ertrunken, hätte man damals eingewendet, was weiter? Ein Kind, dessen Erbtheil das Elend, ein armes Bauernmädchen, mit den wenigst tröstlichen Aussichten in die Zukunft, fast verachtet und gemieden von den meisten übrigen Dorfkindern, als das allerärmste und die Tochter des grössten Feindes des Richters, des Mannes, der die Amtmann-Buben bald den Juden verkauft hätte. Ja, hätte man die Nachricht, Seferle wäre ertrunken, ihrer Mutter gebracht, es würde ihr von dieser heiligen Seite nicht eine offizielle Thräne geweint worden sein, denn wehe der Weilheimerin, die über ein verstorbenes Kind solche öffentlich vergossen hätte. „Gott’s Lob und Dank“ hiessen die Beileidsbezeugungen der Weilheimer Frauen gegen einander, „ich habe gehört es wäre Dir ein Kind gestorben, nun hast Du einen schönen Engel im Himmel, der für Dich bethet.“ Die vielleicht trostlose Mutter musste dann noch eine freudige Miene dazu machen, und mit einstimmen in den Jubel, über das Glück, dass sie ein Kind im Himmel habe, dass für sie bethet. Freilich werden dann manchmal die Thränen in der einsamen Kammer über dem leeren Bettchen ungesehen und so reichlicher geflossen sein.
Dass diese Folgerung bei unserer Stasel hätte gezogen werden können, bezeugt das namenlose Entzücken, mit welchem die Mutter, der man unterdessen die entsetzliche Begebenheit mitgetheilt hattte, ihre verloren geglaubte Tochter umarmte.
Das Sprichwort sagt: gebrannte Kinder fürchten das Feuer, man könnte auch sagen: Bald Ertrunkene scheuen das Wasser, denn seit dieser Erfahrung mied Seferle das kalte Baden für immer.
Als Seferle am Herbste wieder im Hause ihrer Aeltern ankam, fühlte sie tief den Unterschied zwischen ihrem Soffer-Aufenthaltsorte und hier, wo sie stündlich das hohläugige Gespenst: Armuth mit seinem Sateliten: Hunger begegnete.
Fleissig schnurrte das Rädchen, noch war das Pfund Baumwolle nicht fertig gesponnen, und der Magen verlangte dringend, unerbittlich Nahrung.
Da ging auf Geheiss der Mutter Seferle zum reichen Gretles Peter (seine Mutter hiess Gretle und er selbst Peter, daher der Name) und verlangte für einige Pfennige Mehl.
Als es aber zum Zahlen kam, und das Kind um Nachsicht bath, bis das Pfund gesponnen wäre, schüttelte der Mann mit einer kränkenden Bemerkung das Mehl wieder in den Kübel hinein.
Werfen wir keinen Stein auf den Gewerbsmann; wie wenige würden anders handeln! Eines Mittags sassen unsere Leute um den Tisch, auf dem eine dampfende Schüssel stand. Ehrlich theilte die Mutter unter den Kindern die gekochten Kartoffel, da blieben noch zwei in der Schüssel, eine nahm die Mutter, die andere bekam der Vater.
Da traten dem Manne die hellen Thränen in die Augen, und ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust.
Hierüber befragt, erzählte er folgende Geschichte:
Ich diente in meinem 20sten Jahre mit neun andern Burschen in einer Leinwandbleiche.
Rüstig arbeiteten die zwanzig Hände, winkte ja doch nach gethaner Arbeit ein meist gut gedeckter Tisch. Eines Mittags jedoch brachte die Meisterin eine Schüssel mit schwarzen Erdknollen.
Erstaunt sahen wir einander an, und ich als der älteste Geselle, aufgefordert von den Andern, sprach: „Frau Meisterin, das könnt Ihr Euren Schweinen vorsetzen, wir essen’s nicht.“ Standen auf, gingen in’s Wirthshaus, und rührten den ganzen Tag keine Arbeit an. Die Meisterin aber schrie uns erzürnt nach: „Ihr werdet einmahl froh sein, wenn Ihr genug von diesem Schweinefutter zu essen habt.“ Das Schweinefutter aber waren Kartoffel und der Meisterin Profezeihung ist in Erfüllung gegangen!
Zu Ebeneschwand, anderthalb Stunden von Weiler entfernt, wohnte eine alte Pathin von Stasel mit ihrer Tochter Marian, welch letztere mit neidischem Blicke auf den gährlichen Besuch blickte, den Stasel mit abwechselnd einer ihrer Töchter bei ihnen abstattete, da letztere von der Alten stets mit einem kleinen Geschenke bedacht wurden.
Diesmal war an Seferle die Reihe, ihre Mutter nach Ebeneschwand zu begleiten, die nach einem demüthigen Gruss das ihrer Schwester voriges Jahr mit Mehl und Wachs angefüllte Beutelchen der Godel überreichte. Marian setzte den sehr Ermüdeten auf Befehl ihrer Mutter Honig vor, wobei sie jedoch absichtlich kein Brot dazu gab, um es den Beiden unmöglich zu machen, davon zu geniessen. Auch wagten diese nicht, darum zu bitten, und so blieb die verlockende Süssigkeit fast unberührt.
Inzwischen war die Alte beschäftigt, das Säckle mit Flachs oder Baumwolle zu füllen, da sagte Marian mit höhnischer näselnder Stimme: „No, no Muatterle, gib ihnen nur recht viel Bittele (Beutelchen), es kimmen auf’s Jahr ihrer Zehne und bringen’s wieder leer, dass Du’s ihnen zehnfach anfüllen sollst!“
Krampfhaft ballte sich die kleine Faust Seferle’s vor Scham und unnennbaren Unwillen, und absichtlich liess sie beim Abschiede das Beutelchen auf der Ofenbank liegen.
Die eintönige trockene Zeit des Schulbesuches war gekommen, Vormittags zwei, Nachmittags zwei Stunden, die übrige Zeit des Tages mit Spinnen ausgefüllt.
Früh Morgens, wenn das Schlafen noch so gut schmecken wollte, bethet die Mutter mit lauter Stimme: „Himmlischer Vater, g’seg’n uns alle Speis,“ und scheppert dazu mit dem blechernen Löffel, da springen die Kinder mit gleichen Füssen aus dem Bette, und stellen sich um den Tisch, auf dem schon die Habersuppe dampft, das Tischgebeth dünkt ihnen heute entsetzlich lang, nach dessen Beendigung stürzten sie endlich mit Heisshunger über das köstlich duftende Gericht.
Jetzt geht’s an’s Spinnen. Rrrrrr! Wie das sich dreht und wackelt und pfeift, wer kann’s am Besten von Euch? Wer spinnt am Meisten? Bei jedem Pfund wird am Klaushölzel ein Einschnitt gemacht, dasjenige, das die meisten Einschnitte hat, wird dann vom Klaus (heiliger Nikolaus) am Besten bescheert.
Bärbel ist die Beste, weiss sie das Rädle so geschickt zu drehen? Und sie singt und plaudert doch am Meisten! Und doch ist ihr Gesponnenes häuflicher als das der Andern! Non löst sich das Rätsel, während die Andern eifrig spinnen, und auf die Wutzel acht geben, reisst sie bald von der Einen, bald von der Andern eine Handvoll an sich, besonders geht ihr dies Hanthieren Abend in der, nur durch einen brennenden Spahn schlecht erleuchteten Stube von Statten.
Am Tage der Prüfung haben sich die Kinder g’sunntagt; die Schulstube ist frisch getüncht, der Herr Pfarrer, der Herr Schulaufseher aus Bregenz sitzen am Katheder; furchtlos tritt Seferle vor Alle die schwarzen Herren, und weiss mit vernehmlicher Stimme einen langen lateinischen Satz auswendig herzuplappern, von dem jedoch die wenigsten Anwesenden etwas verstanden.
"Bravo Haas!“ tönte es einstimmig von droben herab, und zwei Freudenthränen glänzten in den Augen der zuhörenden Mutter.

Fortsetzung
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abohn - 7. Mai, 09:56
Gut gewagt!
Ein sehr ansprechender Text! So etwas würde ich auch...
abohn - 25. Apr, 15:30
Eigentlich habe ich deinen...
Eigentlich habe ich deinen Sohn erkannt. Der ist ja...
lamamma - 27. Mär, 12:44
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lamamma - 26. Mär, 15:30
Wobei nähen sich ja viel...
Wobei nähen sich ja viel direkter geboten hätte.
Schwallhalla - 26. Feb, 10:30

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