5
Sep
2010

Was ist modern?

Paul Hindemith (1895 - 1963) gilt als Komponist der Moderne. Seine Gesangsstücke klingen laut Wikipedia-Eintrag "rau".
Den Ludus Tonalis habe ich in den Achtzigerjahren einmal von Hans Petermandl in einem sehr intimen Rahmen aufgeführt gehört. (Damals hatte ich auch nach langer Zeit wieder einmal meinen Klavierlehrer Anton Hueber getroffen.)
Heute gibt es auf Ö1 "Mathis der Maler" in der symphonischen Fassung.
Dieses Werk ist für mich nicht moderner als - sagen wir - J.S. Bach. Ich habe es als Kind so oft gehört, weil mein Vater ja die Musikstücke, über die er Vorträge gehalten hat, wiederholt auf Langspielplatte angehört hat.
Wenn man ein sogenannt modernes Stück zehn Mal oder öfter hört UND das Stück gut ist, werden einem nach und nach die inneren Strukturen offenbar. Auf einmal erscheint alles harmonisch und melodisch. Natürlich geht mir das mit sehr vielen Stücken so.
Aber den Mathis habe ich schon mindestens 30 Jahre nicht mehr gehört und ich könnte jede Melodie mitsingen, so eingängig erscheint sie mir.
Und ich wiederhole meine schon manchmal geäußerte Meinung: bestimmte Inhalte im Leben "muss" man sich erarbeiten. Man kann nicht erwarten, dass sich alles auf den ersten Blick offenbart. (Außer man wäre ein musikalisches "Genie" wie z.B. Max Reger oder Franz Schmidt. Die konnten nach nach dem Anhören eines Musikstücks dasselbe ohne weitere Arbeit wiedergeben.)
-
Unsere Zeit hat es nicht mehr so mit dem Erarbeiten. Alles muss sich sofort und intuitiv erschließen. Was nicht auf den ersten Blick gefällt, ist "out". Allenfalls lässt man sich in der Bildenden Kunst noch etwas Unverstandenes gefallen, wenn das Buffet bei der Vernissage in Ordnung war.
Und kaum jemand bemerkt den Verlust, der mit dieser Einstellung einher geht.
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virtualmono - 5. Sep, 14:31

Volle Zustimmung - unsere ganze Gesellschaft scheint kollektiv am sogenannten ADS zu leiden - niemand will mehr ernsthaft über irgendetwas nachdenken, sich "Arbeit" mit etwas machen... Schuld ist aber auch das Fernsehen, das diese stumpfe Haltung nicht nur fördert, sondern geradezu epidemisch verbreitet. Ich sags ja, Fernsehen - braucht kein Mensch... ich mache lieber mein eigenes Programm ;-)

steppenhund - 5. Sep, 15:09

Ich habe erst sehr spät erkannt, dass Fernsehen so etwas wie die "gewaltlose" Ausübung von Diktatur darstellt. Am stärksten war das in der Zeit des kalten Krieges festzustellen. Wie verhindert man, dass sich 250 Millionen Amerikanern mit ungefähr gleichvielen Russen die Schädel einschlagen? Man befriedigt sie mit Fernsehen.
War auf der amerikanischen Seite, wo die Redefreiheit ja in der Verfassung steht, noch wichtiger als in Russland.
Das mit dem eigenen Programm machen, bedeutet halt auch wieder Arbeit. Und da landen wir wieder am Anfang.
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Ich hab übrigens gestern begonnen, für das Konzert im November ernsthaft zu üben:)
virtualmono - 6. Sep, 12:55

Das mit dem eigenen Programm machen, bedeutet halt auch wieder Arbeit.

Das schon - aber es ist wenigstens sinnvolle Arbeit, die - zumindest bei mir - einen Flow-Status nach dem anderen auslöst. Mehr kann man sich eigentlich gar nicht wünschen.
david ramirer - 5. Sep, 17:26

ich deponiere hier einmal meinen selbstverständlichen widerspruch gegen deinen satz die bildende kunst betreffend: genau wie in der musik ist es auch hier die zeit, die ein werk eröffnet, und nicht das buffet - wie auch in der oper der frack und das abendkleid den zugang nicht ebnen, sondern das einlassen, das jeder besucher einzeln an sich selbst zulassen muss. das ist unmodern, da gehe ich ganz d'accord mit dir.
und ich möchte die massen nicht zählen, die sich moderne musik anhören, weil das buffet gut ist, und nicht einmal einen funken verstanden haben von dem, was sie gehört haben.

die bildende kunst kann nichts dafür, dass die schwelle für das verstehen scheinbar niedriger ist - auf "gefallen" alleine kommt es hier ebenso wenig an wie in der musik.

aber eines ist dennoch traurig: die bildende kunst ist, in ihrer modernsten ausprägung in der überwiegenden mehrheit bar jeder sinnlichkeit und kaum auszuhalten für jemanden, der augen hat um zu sehen - ein manko, das die moderne (ernstzunehmende) musik nicht hat, finde ich.

steppenhund - 5. Sep, 17:32

Ich hatte meinen Exkurs in die bildende Kunst auch durchaus ironisch gemeint. Ich sehe ja auch in Ausstellungen wenige Leute, die eine Stunde vor einem Bild verharren.
Ein Blick, ein bis zwei Minuten, ein "das ist schön" und weiter geht es zum nächsten Bild.
Im Konzert eine dreiviertel Stunde sitzen, bis man in die Pause darf, ist da schon anstrengender.
Und ich kann mich noch gut an meinen Eindruck in der Eremitage erinnern. Das ist eigentlich eine unmögliche Sammlung, da hat nur der etwas davon, der sich täglich drinnen aufhält.
Die Bilder in der Österreichischen Nationalgalerie kenne ich besser. Da gibt es zwei Bildbände davon zuhause und die habe ich schon als Kind sehr lange betrachtet. Deswegen war auch auf einer ehemaligen homepage von mir mein Lieblingsbild abgebildet:
http://de.wikipedia.org/wiki/Die_drei_Philosophen von Giorgione.
david ramirer - 5. Sep, 17:37

giorgone ist ein schönes beispiel für vollendete musik in bildform.
wer sich da nicht zeit nimmt, sieht nur die oberfläche...

es ist sehr interessant: menschen geben in ausstellungen einem bild selten mehr als eine halbe minute. eine stunde sitzen nur diejenigen, die es kopieren, oder sich dem bild wirklich widmen... und das sind sehr sehr sehr wenige.

bei vernissagen sind die bilder ohnehin nur lästiges beiwerk: das buffet siegt haushoch, auch schon wegen der sinnlichen qualität und der sozialen komponente.
walküre - 6. Sep, 12:49

Was sich mir bei der Lektüre dieses Eintrags nicht nur intuitiv erschließt: Es heißt "Mathis der Maler" - mit dem Gustav mit "h" hat das Werk nichts zu tun ...

steppenhund - 6. Sep, 13:41

Danke für den Hinweis. Unglaublich, dass mir so ein Fehler passieren konnte. Den habe ich nun aber ausgebessert:)
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