Sein und Schein
Erwin Chargaff hat als Biochemiker grundlegende Erkenntnisse in der DNA-Forschung herausgefunden, welche später zur Entdeckung der DNA-Doppelhelix durch Watson und Crick führen konnten.
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Nach seiner Emeritierung gab er gesellschaftskritische Essays heraus, deren jedes einzelne durch Geschliffenheit und Aussage besticht.
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Ich liebe vor allem meinen kleinen Band "Abscheu vor der Weltgeschichte". Zufällig handelt das erste Essay von der Wahrheit: "Über die Liebe zur Wahrheit".
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Im 7. Abschnitt geht es so richtig zur Sache.
Als philosophischer Begriff nimmt das Wort Wahrheit viel Raum ein in den Registern der Werke aller bedeutenden Philosophen, z.B. sechs engbedruckte Seiten im Hegel-Register.
Chargaff erzählt über Wahrheitshülsen. Er grenzt die wissenschaftliche Wahrheit von den theologischen und philosophischen Wahrheiten ab und zitiert Thomas von Aquino:
... der in seinen 'Quaestiones quodlibetales' die Herkunft der unzähligen Wahrheiten aus der einen singulären Wahrheit treffend gekennzeichnet [hat]." *)
Jetzt zitiere ich einen Absatz, der mir angesichts der zunehmenden Sprachlosigkeit (es ist nicht Ungenauigkeit, sondern es gehen uns die Begriffe verloren) besonders interessant erscheint.
"Da ich früher das Feingefühl der deutschen Sprache gepriesen habe, möchte ich, gerade im Zusammenhang mit den Naturwissenschaften, noch ein weiteres Beispiel erwähnen. Ich denke an die Wörter Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, deren etwas unbehagliche Familienbeziehungen andere Sprachen nicht ausdzudrücken vermögen. Wen erinnern z.B. truth und prabability daran, daß in ihnen der Unterschied zwischen Sein und Schein zum Vorschein kommen sollte, wie er es im Deutschen tut? In der Naturforschung sind Wahrscheinlichkeit und Wahrheit of durch nichts mehr getrennt als durch zwei oder drei zusätzliche Experimente mit halbwegs gleichem Resultat. Ich denke, daß man bei gründlicher Durchsicht häufig finden wird, daß die Naturwissenschaften viel reicher an Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten sind als an Wahrheiten. Am Begriff der Wahrheit gemessen sind die meisten Wisschenschaften jetzt viel zu kompliziert geworden, denn der alte Wahrspruch simplex sigillum veri, Einfachheit sei das Siegel der Wahrheit, ist nicht außer Kraft gesetzt."
Ich könnte das ganze Buch abschreiben, so d'accord bin ich mit fast allen Aussagen auf den etwas über 110 Seiten. Ich kann es nur denen ans Herz legen, die für diese Art von Schrifttum etwas übrig haben.
* Ab una prima vertate multae veritates in mentibus hominum resultant, sicut ab una facie hominis resultant multae facies in speculo fracto.
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Nach seiner Emeritierung gab er gesellschaftskritische Essays heraus, deren jedes einzelne durch Geschliffenheit und Aussage besticht.
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Ich liebe vor allem meinen kleinen Band "Abscheu vor der Weltgeschichte". Zufällig handelt das erste Essay von der Wahrheit: "Über die Liebe zur Wahrheit".
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Im 7. Abschnitt geht es so richtig zur Sache.
Als philosophischer Begriff nimmt das Wort Wahrheit viel Raum ein in den Registern der Werke aller bedeutenden Philosophen, z.B. sechs engbedruckte Seiten im Hegel-Register.
Chargaff erzählt über Wahrheitshülsen. Er grenzt die wissenschaftliche Wahrheit von den theologischen und philosophischen Wahrheiten ab und zitiert Thomas von Aquino:
... der in seinen 'Quaestiones quodlibetales' die Herkunft der unzähligen Wahrheiten aus der einen singulären Wahrheit treffend gekennzeichnet [hat]." *)
Jetzt zitiere ich einen Absatz, der mir angesichts der zunehmenden Sprachlosigkeit (es ist nicht Ungenauigkeit, sondern es gehen uns die Begriffe verloren) besonders interessant erscheint.
"Da ich früher das Feingefühl der deutschen Sprache gepriesen habe, möchte ich, gerade im Zusammenhang mit den Naturwissenschaften, noch ein weiteres Beispiel erwähnen. Ich denke an die Wörter Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, deren etwas unbehagliche Familienbeziehungen andere Sprachen nicht ausdzudrücken vermögen. Wen erinnern z.B. truth und prabability daran, daß in ihnen der Unterschied zwischen Sein und Schein zum Vorschein kommen sollte, wie er es im Deutschen tut? In der Naturforschung sind Wahrscheinlichkeit und Wahrheit of durch nichts mehr getrennt als durch zwei oder drei zusätzliche Experimente mit halbwegs gleichem Resultat. Ich denke, daß man bei gründlicher Durchsicht häufig finden wird, daß die Naturwissenschaften viel reicher an Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten sind als an Wahrheiten. Am Begriff der Wahrheit gemessen sind die meisten Wisschenschaften jetzt viel zu kompliziert geworden, denn der alte Wahrspruch simplex sigillum veri, Einfachheit sei das Siegel der Wahrheit, ist nicht außer Kraft gesetzt."
Ich könnte das ganze Buch abschreiben, so d'accord bin ich mit fast allen Aussagen auf den etwas über 110 Seiten. Ich kann es nur denen ans Herz legen, die für diese Art von Schrifttum etwas übrig haben.
* Ab una prima vertate multae veritates in mentibus hominum resultant, sicut ab una facie hominis resultant multae facies in speculo fracto.
steppenhund - 1. Nov, 10:44
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tom-ate - 1. Nov, 11:03
Die "unbehagliche Familienbeziehung" zwischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit ist allerdings eine Trouvaille.
rosenherz - 1. Nov, 17:33
Mir scheint, ohne Schein geht nix.
Was zählt allein das Sein, wenn es sich nicht in einen (Geld-)Schein verwandeln lässt? Was nützt die schöne Natur in den Bergen, wenn Mensch (Bauer) nicht von diesem Sein leben kann (ohne Geldschein)? Was nützt die gute Kuh, wenn sie erst verkauft werden kann, bringt mann sie erst friseurmäßig gestylt an das Du?
Was überwiegend zählt, ist der (schöne) Schein und der (Geld-)Schein: Wozu würde die Kosmetikindustrie Jahr für Jahr Milliarden umsetzen? Die Schönheitschirurgie jährlich satte Zuwächse machen? Die Textilindustrie mehrmals jährlich die neuesten Modelle auf den Markt bringen? Coaching-Agenuturen für die Perfektionierung des Auftretens sorgen?
Was zählt allein das Sein, wenn es sich nicht in einen (Geld-)Schein verwandeln lässt? Was nützt die schöne Natur in den Bergen, wenn Mensch (Bauer) nicht von diesem Sein leben kann (ohne Geldschein)? Was nützt die gute Kuh, wenn sie erst verkauft werden kann, bringt mann sie erst friseurmäßig gestylt an das Du?
Was überwiegend zählt, ist der (schöne) Schein und der (Geld-)Schein: Wozu würde die Kosmetikindustrie Jahr für Jahr Milliarden umsetzen? Die Schönheitschirurgie jährlich satte Zuwächse machen? Die Textilindustrie mehrmals jährlich die neuesten Modelle auf den Markt bringen? Coaching-Agenuturen für die Perfektionierung des Auftretens sorgen?
steppenhund - 1. Nov, 18:45
Was sagt da wohl Dr. Schein dazu?
walhalladada - 1. Nov, 21:46
Ich hätte sehr gerne dazu etwas gesagt, aber die Stichwortsuche nach 'Schein' in meinem 'Praxisarchiv' hat nicht weniger als 2170 Resultate geliefert...Da es mir mehr als wahrscheinlich erscheint, dass sich in keinem die Wahrheit finden lässt, klicke ich dem Schein auch nicht weiter hinterher:-)
steppenhund - 1. Nov, 21:52
Und?
Zu Chargaff haben Sie gar nichts zu sagen:)
Zu Chargaff haben Sie gar nichts zu sagen:)
oops - 1. Nov, 18:52
danke für den lesetipp ;-)
steppenhund - 1. Nov, 18:59
Ist gleichzeitig leichte und schwere Kost. Man muss sich die Seiten einzeln vornehmen, dann hat man den größten Genuss.
oops - 1. Nov, 19:00
werd ich machen
und schaun, dass ich diese woche noch irgendwo büchershoppen kann
und schaun, dass ich diese woche noch irgendwo büchershoppen kann
steppenhund - 1. Nov, 19:09
ISBN 3-608-95616-6
oops - 1. Nov, 19:15
thx
hab grad gesehn, dass der thalia es hat
hab grad gesehn, dass der thalia es hat