30
Mai
2011

Hätte sich was geändert?

Ein Text, den ich 2003 geschrieben habe. War nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Beim Warten in der Telefonwarteschleife auf den Internet-Servicedienst falle ich bei der Suche nach älteren Texten auf diesen.
Schon merkwürdig, so etwas zu lesen.


Was hätte sich geändert?
Könnte es eine Erfindung geben, welche die Umstände des Elternhauses nachhaltig verändert haben könnten? Wenn ich davon absehe, dass aus dem Legat einer Erfindung vielleicht rein wirtschaftliche Schwierigkeiten ausgeblieben wären und meine Schwester weniger materialistisch geworden wäre, kann ich mir nicht wirklich etwas Maßgebliches vorstellen. Selbst die rein materiellen Dinge sind nicht ausschlaggebend. [Mit Ausnahme des Klaviers. Aber da bedurfte es nicht einmal Verdrängung. Zu gut kenne ich die Branche.
hier nicht relevant, Anm. s.] Es ist auch schwierig, sich vorzustellen, nichts arbeiten zu müssen. Das Maß der Verantwortung, welches ich trage, ist genau richtig.
Hätte es keinen Krieg gegeben? Schwer vorstellbar. Krieg scheint auf jeder Ebene notwendig, außer auf einer mechanokratischen Basis. Diese würde den Freiraum des Menschen entscheidend einengen. Wünsche ich eine Denkleistungsunterstützung, die die Unterschiede der Menschen ausgleicht? Lauter Menschen mit gleichen Voraussetzungen. Die Gefühle, die aus Frustration in der Kindheit entstehen, würden dann über Herrschaft und Demütigung unterscheiden.
Die Frage zielt eindeutig in den religiösen Bereich. Areligiöse Ethik ist ja momentan sehr in. Also was ist vorstellbar? Eine zweigeteilte Menschheit. Die große Masse normalisiert auf eine zusammenlebbare homogene Herde und ein Reservat, in dem sich naturbelassene Menschen nach einem moraltestenden Aufnahmeritual als Pioniere betätigen dürfen. Sie stellen dann das Mutationselement dar, ohne dass eine anderwertig resultierende Stagnation zum Absterben führen würde. Aber über den zwei Gruppen müsste es eine kontrollierende Instanz geben. Woraus wird sie rekrutiert?
Kann man Mütter Theresas oder Albert Schweitzers aussortieren? Oder fällt man in eine absolutistische Herrscherzucht von Gottes Gnaden zurück?
Es könnte sein, dass die Menschheit genauso sein muss, wie sie ist, um überleben zu können. Dass eine Bedrohung von außen herrührt und wir fit sein müssen, um ihr zu widerstehen. Daher müssten wir vielleicht bestimmte Eigenschaften entwickeln, die in Friedenszeiten grausam erscheinen.
Was stört mich denn? Dass Leute nicht mit dem zufrieden sind, was sie haben. Das es kein kollaboratives Gesellschaftssystem gibt, oder das lebbar ist.
Ich möchte vermutlich eine Normierung der Werte a la Glasperlenspiel, in dem dann wieder die Unzufriedenheit ausgedrückt wird, wenn das Leben weder Blut noch Schweiß kennt.
Ich könnte anführen, dass keine einzige Erfindung das Leben der Menschen entscheidend verändert hat. Oder doch? Da müsste man ansetzen.
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la-mamma - 30. Mai, 20:25

in hinblick auf den letzten absatz, hab ich einmal die antwort gehört, dass genau zwei erfindungen, das leben der menschheit in "letzter" zeit sehr entscheidend verändert haben: die atombombe und die pille. nunja.

profiler1 - 31. Mai, 00:36

ich würd das jetzt so nicht ganz unterschreiben.
helmut gansterer hat mal irgendwo geschrieben, für ihn ist die wichtigste erfindung der menschheit das automobil, und zwar deswegen weil es die individuelle mobilität jedes einzelnen gewährleistet. mit dem gedanken kann ich mich schon eher anfreunden.
jeder der eines hat oder zur verfügung hat, kann hin wohin er will. und sei es meinetwegen bschlabs, namlos, pfafflar oder grammatneusiedl.
david ramirer - 31. Mai, 06:31

helmut gansterer würde wohl, soweit ich ihn kenne und einschätze, auch die zigarette zu den wichtigsten erfindungen zählen, weil damit jeder auch im kleinen rahmen die luft rund um sich nach herzenslust verpesten kann - überdies habe ich vor ein paar jahren in einem artikel von ihm gelesen, dass wir es nur der zigarette verdanken, dass es die leuchtendsten elaborate unserer kultur überhaupt gibt; also ist vielleicht auch die erfindung des tabakgenusses die voraussetzung für das automobil gewesen...

und bevor das auto kurzerhand und unbedacht auf das podest der elementaren erfindungen kommt, sollte man schuhe und fahrrad nicht vergessen! wie wichtig dabei auch ein atlas oder neumodisch ein navi sind, sei auch angemerkt: denn ohne solchem wäre bschlambs, namlos, pfafflar und grammatikneusiedl nur schwer zu finden.
steppenhund - 31. Mai, 08:55

Ich denke, dass keine der erwähnten Erfindungen irgendetwas an der "moralischen" Einstellung der Menschen geändert hat. Wir werden vielleicht gescheiter, (ich persönlich bezweifel das ja, weil ich immer dümmer werd.) aber unser Mitgefühl, unsere Hilfsbereitschaft, unser Verzicht auf Hass und und Neid, wird über alles besehen, nicht mehr. Mir müssten meiner Meinung nach heute viel besser das Prinzip der Nächstenliebe verstehen, als das noch zu Christi Zeiten der Fall war.
-
Ich hoffe ja sehr, dass ich Unrecht habe. Aber vermutlich wird sich das erst in den nächsten 2000 Jahren herausstellen, wenn unsere Zeit historisch beurteilt werden kann. Vielleicht auch schon in 50 Jahren.

david ramirer - 31. Mai, 10:23

du argumentierst unfair.
wenn jemand eine großartige sonate für klavier schreibt, wirst du ihm doch auch nicht entgegenhalten, dass diese die performance deines notebooks kaum verbessert hat. erfindungen und entdeckungen bringen die moral nicht vorwärts - weil moralische begriffe sich in einem nicht nur von intelligenz erreichbaren bereich bewegen. das kann daran beobachtet werden, dass auch menschen mit geringem IQ von herzensgüte und liebe nur so überquellen können, während hochintelligente menschen bisweilen die niederträchtigsten arschlöcher sind (stichwort DSK).

um "verstehen" geht es beim "prinzip der nächstenliebe" auch nicht. "verstanden" ist es schnell - und genau so schnell kann man es mit intelligenz und geschickten philosophischen argumentationen auch wieder aushebeln. "zu viel denken" kann in letzter konsequenz auch die schönste moralische idee wieder zerstören. ich glaube nicht, dass die wissenschaftlichen und technischen errungenschaften in der selben liga arbeiten wie die moralischen ideen, die auch kaum eine derartige evolution benötigen, wie die technischen gadgets, auf die die menschheit so stolz ist.
"nächstenliebe" ist seit mehr als 2000 jahren die selbe idee, wir können sie nicht besser "verstehen" wie vor 2000 jahren, aber wir können sie (auch dank so mancher technischer errungenschaft) besser leben: wenn wir es tun, anstatt darüber nachzudenken.
steppenhund - 31. Mai, 11:18

Das ist nicht Unfairness. In deiner Erwiderung bestätigst Du gerade meinen Punkt, um den es mir geht. Wir lernen etwas dazu, aber unser moralisches Empfinden vergrößert sich nicht.
Das Modell sieht so aus: wir lernen Waffen zu bauen. Am Anfang geht nur das Gegenüber drauf, dann gibt es Artillerie, dann gibt es Flugzeuge, dann gibt es Atombomben. Mit der Stärke der Waffen und der Irreversibilität der Waffenanwendung müsste eine Verstärkung des moralischen Empfindens einhergehen, um größere Vorsicht walten zu lassen. Bis jetzt haben wir noch immer gerade im letzten Moment eine große Katastrophe verhindern können. Mit der nächsten oder übernächsten Waffengeneration wird uns das nicht mehr gelingen. Irgendein Fanatiker wird sie betätigen und ein irreversibler Prozess wird uns alle betreffen.
Als kleine Nebenbemerkung sei mir gestattet: dass sich Moral auch errechnen lässt. John Nash, Nobelpreisträger, hat im Prinzip mathematisch das gleiche wie Christus gepredigt. Cooperation instead of Fight.
Auch Nächstenliebe kann vergrößert werden, nur theoretisch allerdings.
david ramirer - 31. Mai, 11:40

das "müsste" der woche ;)

wenn das moralische empfinden am beginn der waffenevolutionskette nicht da ist, wird es während dieser und am ende auch nicht da sein - waffen fördern nicht gerade das nachdenken über den feind und dessen recht zu (über-)leben.
ich kann jedoch durchaus beobachten, dass der einsatz von atomaren waffen mit größerem bedacht vorgenommen wird als der anderer kriegsutensilien, weil die moralische grenze der selbstzerstörung bei einem konflikt hier überschritten wird.
nächste generationen von waffen werden wohl mit ganz anderen mitteln arbeiten, und viel verheerender sein, aber auch zielgerichteter, weil sie auf die software zielen werden, nicht mehr auf die hardware.

derzeit streiten sich ja die evolutionstheoretiker, ob cooperation oder natural selection die wesentlichen bausteine im entwickeln und fortschreiten der arten sind. dass sich moral auch errechnen lässt (bzw. ihre effizienz mathematisch belegbar ist), glaube ich sofort.
auch praktisch kann nächstenliebe vergrößert werden - bei jedem einzelnen, nicht aber bei allen.
Christian Zajer - 10. Feb, 12:51

Helmut Schmidt besteht ja darauf, dass der Wohlfahrtsstaat die bedeutendste Erfindung des 20. Jahrhunderts ist. Eine markige Aussage, gerade jetzt, wo sich "die Neoliberalen" mit Vorschlägen zur Weltverbesserung geradezu übertreffen. Ich persönlich bin bei Schmidt.

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