13
Dez
2010

Lesen - Was ist das

Über das Lesen haben berufenere Leute als ich bereits deutliche Worte gefunden. Ein Blogger hat sich die Mühe gemacht, Hermann Hesses Text über das Lesen ins Internet zu stellen.
Wer den Text nicht kennt, sollte ihn einmal lesen, egal, wie er sonst über Hesse denkt.
Mein Vater hat mir einmal gesagt, das Lesen ein Verschwendung ist. Eine Verschwendung an Leben. Diese Aussage könnte leicht missverstanden werden. Wurde sie aber von mir nicht, weil ich ja wusste, wie viel mein Vater gelesen hatte. Und nicht nur einfach gelesen. Manchmal schrieb er auch Leserbriefe und die Antwort eines berühmten Autors, Heimito von Doderer, ist bezeichnend, wie intensiv mein Vater gelesen hat. In einem Antwortbrief schrieb Doderer: "Selten erfährt ein Autor das Glück, sich von seinem Leser so verstanden zu wissen."
Was hat mein Vater also gemeint? Er hat das auch in der Folge erklärt. Durch das Lesen kann man sich verlieren, man kann versäumen, das richtige Leben zu leben, schlichtweg zu leben. Denn Lesen kann zur Droge werden.
Und so, wie es Kettenraucher gibt, die 95 werden, und Weinbauern, die mit 80 noch ihren täglichen Liter Wein genießen, so wie es eine ganze Reihe von alten Menschen gibt, die sich nur einseitig ernähren, so kann man auch das Lesen wie eine Droge genießen, ohne dass man sich deswegen dem Leben versagen muss.
Während man aber beim Abstinenzler nicht unbedingt Mangelerscheinungen feststellen wird, stellt man schon manchmal überrascht fest, dass jemand Lungenkrebs bekommt, obwohl er nicht geraucht hat. Neben dem Passivrauchen gibt es ja auch noch andere verursachende Faktoren.
Vielleicht sollte man das Lesen daher besser mit der Milch vergleichen. Während die Milch für das Kind eine ganze Reihe wertvoller Ingredienzien mitbringt, kann sie für den Erwachsenen sogar schädlich sein. Ganze Menschengruppen vertragen sie nicht einmal.

Warum, und in welchem Alter, sollte der Mensch nun das Lesen brauchen?
Die Antwort ist: ziemlich früh. Zuerst in passiver Form des vorgelesen Bekommens, danach möglichst rasch in aktiver Form des selber Lesens.
Das Lesen ist der Schlüssel und die Nährsubstanz für die Fantasie. Die Fantasie kommt in unterschiedlichen Ausprägungen daher. Fabulieren, Tagträumen, Vorstellungsvermögen, Empathie und Verständnis, Verständnis und Einfühlungsvermögen in andere Menschen. Es gibt auch negative Aspekte wie Albträume, allgemeine Paranoia, die in gemäßigter Form vielleicht für das Überleben notwendig ist.
Die positiven Aspekte überwiegen allerdings.
Jetzt ist die Fantasie aber etwas, was vom Leser aus dem Inneren erbracht werden muss. Das Lesen ist Erfahren von äußeren "Tatsachen" (gilt auch für Märchen). Um diesen Erfahrungsprozess durchleben zu können, muss ich in der Lage sein, selbst das Tempo zu bestimmen. Wird mir vorgelesen, moniere ich "das kenn ich schon" oder "noch einmal, ich möchte das noch einmal hören". Ich mache das, um das Tempo des Vorlesenden dem Zeitmaß meiner Vorstellungswelt anzupassen.
Wenn ich dann einmal selbst lesen kann, bestimme ich das Tempo ohnehin selbst.
Das ist der große Unterschied, den das Lesen zu allen anderen Arten der Aufnahme neuer Inhalte hat. Die notwendige Menge an Zeit bestimme ich selbst. Dadurch können meine Gedanken bei jedem Satz schweifen und neue Assoziationen bilden, ich kann mich zu einem gestaltenden Menschen entwickeln.
Jetzt höre ich schon die Argumente, dass es auch Musiker gibt, die keine Noten lesen können. Ja, das stimmt. Ich selbst habe einmal einen berühmten und auch sehr berühmten Musiker in Manila (del Rosario) kennengelernt, der mir erzählt hat, dass er nicht Noten lesen kann. Ähnliches lässt sich sicher auch bei Malern als Gegenbeispiel anführen. Die Frage ist nur, wie schreibe ich eine Symphonie ohne auf Noten zurück zu greifen. Ich kann mir auch vorstellen, dass es berühmte Köche gibt, die nie ein Kochbuch gelesen haben, doch wieviele Menschen können ohne Kochbuch kochen?
Kommen wir zurück zum Lesen. Brauche ich bewusstseinserweiternde Drogen, wenn ich wirklich lesen kann? (Das ist ein anderes Thema, das ich jetzt hier nicht weiter ausführe.)
Lesen kann durch vielerlei ersetzt werden, aber vermutlich sind alle anderen Erfahrungsmaßnahmen entweder sehr zeitaufwändig, gefährlich oder vielleicht sogar unethisch. Ist es notwendig, jemanden umzubringen, um sich in die Situation zu versetzen, ob man sich danach schuldig fühlen soll, muss oder überhaupt kann?

Lesen ist überbewertet! So, wie auch die Mathematik! So, wie viele andere Dinge überwertet sind, wieviel PS mein Auto hat, nicht wahr?
So viele Dinge sind überbewertet. Menschenleben, Menschenwürde, Armut (die ist vielleicht unterbewertet) und so fort. Wie soll denn jemand überhaupt mit einem Armen Mitleid empfinden, wenn er nicht die Welt des Armen kennt. Wenn er nur den Bettler kennt, von dem er annimmt, dass er zu einer organisierten ausländischen Bande gehört.
Wie soll den jemand erkennen, dass er im Krieg genau auf die Person schießt, die möglicherweise genauso gut sein Nachbar hätte sein können?
Wie soll jemand verspüren, dass ein Bruderkrieg noch eine Spur gemeiner ist - und unheilbare Narben hinterlässt - als "der normale Krieg", bei dem man dann halt einmal zwei Atombomberln abwirft, um ihn zu beenden?
Natürlich ist es möglich, sich das alles erzählen zu lassen - in der Schule - oder das einmal in Filmen geschildert zu bekommen, wobei dort fast immer die Liebesgeschichte der unzureichende Träger ist, damit überhaupt Emotionen geweckt werden.
Wenn die Vorstellungskraft eines Menschen einmal verkümmert ist, helfen alle anderen Darstellungen nichts mehr.
Es gibt eine Ausnahme: es gibt Menschen, die sich sowieso nicht unserer Zeit anpassen, Menschen, die einfach der Natur verbunden sind, Menschen aus anderen Kulturkreisen, die wir als zurückgeblieben ansehen. Menschen, die komischerweise sehr viel Mitgefühl entwickeln können. (Die Erklärung ist einfach: die Leute lesen vielleicht nicht, aber ihnen wurden jede Menge von Geschichten, Sagen, Mythen in ihrer Kindheit eingetrichtert. Zwar auswendig überliefert, aber ganz in Vertretung des Vorlesens.)
-
Für uns andere, die wir in unsere Zeit geboren sind, ist für die große Mehrzahl von uns das Lesen die Eintrittskarte in das Gebiet der Fantasie. Wer sich da einmal wirklich austoben möchte, sollte das Buch von Michael Ende die unendliche Geschichte
lesen.
-
Falls es noch nicht klar ist: die zeitliche Eigenbestimmung ist es, was das Lesen sämtlichen anderen Erfahrensmöglichkeiten voraus hat. Deswegen ist der Fernseher als Babysitterersatz mit noch zu entzückenden Tierfilmen kontraproduktiv, wenn er zu einem Zeitpunkt verwendet wird, bevor das Kind lesen kann oder entsprechend viele Geschichten vorgelesen bekommen hat.
-
Aber es mag sein, dass ich die Fantasie, das Vorstellungsvermögen überbewerte. Allerdings werden wir ohne Vorstellungsvermögen, dass es auch anders funktionieren kann, kaum eine Verbesserung der derzeitigen Zustände erreichen können.
-
Mathematik ist natürlich genauso überflüssig wie Lesen!
read 857 times
ConAlma - 13. Dez, 22:07

Ich bin für Lesen UND Weintrinken. In beidem ist ganz schön viel Leben ;)

testsiegerin - 13. Dez, 22:09

um wein zu trinken muss man ihn ja auch vorher lesen.
steppenhund - 13. Dez, 22:11

Ich könnte mir vorstellen, dass diese Zufälligkeit im Text von ConAlma nicht zufällig zustande gekommen ist:)
-
Und ist es nicht schön? Endlich wird die Mathematik unwichtig:)
ConAlma - 13. Dez, 22:20

Na klar - so wie die Musik ;)
virtualmono - 13. Dez, 22:32

Musik ist doch nur eine weiterentwickelte Form der Mathematik ;-)
steppenhund - 13. Dez, 23:03

@ConAlma

genau - so wie Musik und so wie Sex...
steppenhund - 13. Dez, 23:07

@vm

Oder Mathematik ist ein Kondensat der Musik. Denn alles rund um uns ist Musik...
david ramirer - 14. Dez, 13:06

@steppenhund

ja, alles um uns ist musik.
und wir selbst sind es auch...


Hazrat Inajad Khan: Die Musik der Sphären
Ich wende mich an diejenigen, die die Wahrheit über das Gesetz der Musik wissen wollen. Es ist ein Gesetz, das im ganzen Universum wirkt. Man kann es deshalb auch als das Gesetz des Lebens bezeichnen. Es ist ein Gesetz des Maßes, und ein Gesetz der Harmonie, ein Gesetz des Gleichgewichtes. Alle Aspekte des Lebens sind in ihm beschlossen. Dieses Gesetz bestimmt das Schicksal des Universums. Was wir in unserer Alltagssprache Musik nennen ist nur ein miniaturhafter Ausschnitt aus der Musik und der Harmonie des Universums, die hinter allem wirkt und die die Quelle und der Ursprung der Natur ist. Deshalb haben die Weisen aller Zeitalter Musik als heilige Kunst betrachtet. In der Musik kann der, der zu sehen versteht, das Bild des Universums erkennen. Viele Religionen der Welt haben uns gelehrt, daß der Ursprung der Schöpfung Klang ist, aber, es ist kein Zweifel, die Art, in der dieses Wort „Klang“ in unserer Alltagssprache gebraucht wird, verschleiert die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes, wie es in den alten Schriften verwendet wird. Die Musik des Universums ist der Hintergrund jenes so viel kleineren Phänomens, das wir auf dieser Erde als Musik empfinden. Unser Gefühl für Musik, die Art, in der sie uns anspricht, zeigt uns, daß die wahre Musik in der Tiefe unseres Seins ruht. Musik ist im Wesen des Universums. Musik ist nicht nur das eigentliche, große Objekt des Lebens, es ist dieses Leben selbst. Was uns hinzieht zur Musik ist die Tatsache, daß unser innerstes Wesen Musik ist. Unser Geist und unser Körper und die Natur, in der wir leben, die Natur die uns gemacht hat, all das, was über uns, und unter uns, und um uns herum ist, all dies ist: Musik. Deshalb interessiert uns Musik, deshalb bereitet sie uns Vergnügen, sie korrespondiert mit dem Rhythmus und dem Klang, die den Mechanismus unserer Existenz intakt halten. Was uns an jeder Art von Kunst gefällt, sei es Zeichnen, Malen, Schnitzen, Architektur, Skulptur, Dichtung,... : es ist die Harmonie hinter ihr, die Musik in ihr. Was Dichtung eigentlich suggeriert, ist Musik. Den Rhythmus in ihr und die Harmonie der Ideen und Phrasen. Ähnlich ist es mit dem Malen und Zeichnen. Es ist unser Sinn für Proportion und Harmonie, der uns eigentlich Vergnügen bereitet, wenn wir Kunst bewundern, und was uns gefällt, wenn wir der Natur nahe sind, das ist die Musik der Natur. Diese Musik ist vollkommener als die der Kunst. Es gibt uns ein Gefühl der Erhebung, wenn wir im Walde spazieren gehen, oder grüne Wiesen betrachten, oder wenn wir an einer frischen Quelle stehen. Sie alle haben ihren eigenen Rhythmus, ihren eigenen Ton, ihre eigene Harmonie; das Schwingen der Zweige und Blätter im Wald, das Kommen und Gehen der Wellen, all dies ist Musik. Wenn wir die Natur betrachten und Eins mit ihr werden, dann öffnen sich unsere Herzen dieser Musik. Wir sagen, daß wir die Natur lieben, aber was an der Natur lieben wir? Ihre Musik. Es ist etwas in uns, das berührt wird von der rhythmischen Bewegung und der vollkommenen Harmonie, die wir in unserem Alltagsleben so selten finden. Einen Moment lang mit offenem Herzen in der Natur stehen, kann mehr sein als die Zeit eines Lebens - wenn - und darauf allerdings kommt es an - wenn man eins ist mit der Natur. Wenn man den Kosmos betrachtet, die Bewegungen der Sterne und Planeten, das vollkommene und ewige Gesetz der Schwingungen und Rhythmen, dann wird uns bewußt, daß das kosmische System nach dem Gesetz der Harmonie, das heißt nach dem der Musik, funktioniert. Wann immer die Harmonie des kosmischen Systems gefährdet wird, dann kommen Katastrophen über die Welt. Wir spüren das an den vielen zerstörerischen Kräften, die es um uns herum gibt. Die Weisheit des astrologischen Gesetzes, die Weisheit von Magie und Mystik basieren auf Musik. Deshalb ist das Leben der erleuchteten Menschen, die auf dieser Erde gelebt haben, das der großen Propheten Indiens zum Beispiel, Musik gewesen. Aus der Miniaturmusik, die wir verstehen, leiten sie die kosmische Musik des Universums ab. Das hat sie inspiriert zu ihren großen geistigen Leistungen.
steppenhund - 14. Dez, 17:12

@dr

Das sind schöne Zeilen über die Musik. Mir sind sie fast etwas zu esoterisch. Ich habe auch einmal folgendes Buch gelesen:
Die ganze Welt ist Klang.
Das ist, physikalisch betrachtet, auch gar nicht so unsinnig.
Aber da geht es mir wie mit der Mathematik. Das, was wir als Mathematik erkennen können, ist nicht notwendigerweise eine Sicht auf "das Wahre", es ist allenfalls eine etwas wahrscheinlichere.
Und bei der Musik spreche ich gegen meine eigenen Interessen, wenn ich sage, dass unser Verständnis von Musik vielleicht nur ein ganz verkrüppeltes ist. Und das sage ich gerade deswegen, weil mich manche Musikstücke so ganzheitlich in ihren Bann ziehen, dass ich glauben könnte, dass ich nie wieder aufwachen möchte.
david ramirer - 14. Dez, 17:19

ja, stimmt, der text ist sehr esoterisch. sonst gar nicht mein fall.

aber er spricht mit dem herzen, und ich verstehe was er meint, auch wenn es logische lücken darin gibt... ;)
david ramirer - 14. Dez, 17:20

p.s.: ich kenne den text von khan übrigens aus einer radiosendung von behrend ;)
steppenhund - 14. Dez, 17:29

@dr p.s.

Ab einem gewissen Punkt konvergieren die Informationen, mit denen man beschickt wird. Und das gibt auch ein schönes Gefühl;)
rosenherz - 13. Dez, 22:50

Aber was war vor dem Lesen, als nur ein winzigster Bruchteil der Bevölkerung des Lesens mächtig war? Die Kunst des Erzählens? Die mündliche Überlieferung? Von Mensch zu Mensch, von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr?

steppenhund - 13. Dez, 23:05

Ja, selbstverständlich war es das Erzählen. Das Erzählen, bei dem der Zuhörer nachfragen konnte.
Wir haben heute leider nicht mehr die Zeit, uns alles erzählen zu lassen. Und es gibt einfach zu viel Stoff. Es ist wirklich interessant, nicht nur zu lesen, was heute gedacht wird, sondern was in der Gechichte schon gedacht wurde, die Hintertreppe der Philosophie sozusagen.
david ramirer - 14. Dez, 13:00

die philosophische hintertreppe zu lesen ist in der tat interessant, aufschlussreich und zu empfehlen ;)
rosenherz - 13. Dez, 22:52

Mathematik ist überflüssig? Ja, aber erst wenn man sich darin auskennt. Vorher ist sie furchtbar mühselig ;-) - vereinfacht gesagt.

steppenhund - 13. Dez, 23:06

Ach sie ist gar nicht mühselig. Sie ist vielleicht mühselig, weil sie Ausdauer verlangt und das Behalten von etwas, was man schon vor einigen Jahren gelernt hat.
Mathematik verliert ihren Schrecken, wenn man die Dinge, die man einmal verstanden hat, sich auch für die Zukunft merkt. So wie Vokabeln einer Fremdsprache.
oops - 13. Dez, 22:58

Wunderbar beschrieben was das lesen bedeutet
Wieviel und in welchen ausmas wichtig und richtig und einfach Lebenselixier

steppenhund - 13. Dez, 23:07

danke:)
david ramirer - 14. Dez, 01:20

dein text ist wie gewohnt gut entwickelt und spricht mit dem herzen mehr als mit dem kopf, wie mir scheint.
ich verstehe auch ganz gut, worauf du hinauswillst.

an einem punkt jedoch schweifst du vom thema sehr ab, was dem text eine dissonanz gibt (wohl auch, weil du in dem bereich dich nicht ganz so gut auskennst, wie in den anderen):

...habe einmal einen berühmten und auch sehr berühmten Musiker in Manila (del Rosario) kennengelernt, der mir erzählt hat, dass er nicht Noten lesen kann. Ähnliches lässt sich sicher auch bei Malern als Gegenbeispiel anführen. Die Frage ist nur, wie schreibe ich eine Symph...

natürlich meinte ich die malerei, denn in der musik reicht dir kaum wer das wasser. aber in der malerei: nein, da passt das beispiel so überhaupt nicht. (ich würde sagen: leider!)

tatsache ist: es gibt keine wie immer geartete übergeordnete, festgehaltene, wissenschaftliche sprache in der malerei, die in akademien, hochschulen oder anderen institutionen gelehrt werden würde. in der musik gibt es (der jahrtausendealten musikgeschichte und ihren tausenden gelehrten köpfen sei dank) eine sprache, die noten. diese garantiert keinesfalls für gute musik (denn es wird auch jedes meisterwerk der oberkrainer gamsbartdudler mit noten festgehalten und an ambitionierte nachwuchsmusiker weitergeleitet), bietet aber zumindest eine diskussionsgrundlage bei gesprächen zwischen lesekundigen und die anderen segnungen wie quintenzirkel, harmonielehren und polyphoniesysteme will ich dir gegenüber gar nicht erwähnen (sondern nur für andere kurz hier anführen, die ggfls. mitlesen).

aber die malerei? nein - es gibt hier kein verbindliches system. weder kann man sagen, dass ein maler nach der natur zeichnen können muss, noch dass er ganz bestimmte farbenlehren verinnerlicht haben sollte (und ich habe mich mit so einigen beschäftigt um zu sehen: da bestehen 1. enorme differenzen und 2. geringster praktischer nutzen bei den meisten dieser ordnungssysteme, die gerade einmal dazu taugen, farben zu benennen (und das nur bedingt).
und nun - war das dann alles? farbenlehre und naturstudien? kompositionslehren, morphologie, symbolkunde und diverse techniken... das alles ist in summa den diversen esoterischen scheinweisheiten zu sehr ähnlich (vor allem, wenn man sich die differenzen in den inhalten ansieht) - und ist mit der mathematischen präzision, schlicht- und schönheit der musikalischen theorien verglichen einfach lächerlich. bücher über musik quellen über von fachbegriffen, die jeder (kundige) versteht. bücher über gemälde strotzen von unfassbaren plattheiten, die jedem kenner bisweilen die schamesröte ins gesicht treibt: ist denn in der malerei wirklich nichts auch nur halbwegs wissenschaftliches als grundlage festzuhalten?

dabei ist die malerei nicht einmal jünger als die musik, vielleicht sogar viel älter. aber die musik ist der sprache verwandter und daher für die kommunikation und das soziale zusammenleben entscheidender, die malerei dem unmittelbaren aufnehmen von erfahrung (wobei das selbstbestimmte lesen eines bildes schon auch etwas erlernbares ist) näher und im täglichen leben eher entbehrlich (es sei denn, man hat einen gefährlich häßlichen riß in der wand, der von einem bild bedeckt werden soll).

im übrigen ist es eine historische tatsache, dass die wichtigsten maler/innen der geschichte in den allerseltensten fällen jemals eine akademie von innen gesehen haben - sie erlernten ihr handwerk in einer werkstatt und wuchsen (im günstigsten falle) zu eigenen meistern heran.
jedenfalls habe ich noch von keinem (bedeutenden) maler gehört, der seine wichtigsten erkenntnisse aus der akademie mit nach hause genommen hat... und noch von sehr sehr wenigen malern gehört, die über ihre bilder erläuternd reden konnten. denn sprache versagt hier immer noch.

worauf ich hinauswill: es gibt keine sprache in der malerei, auf die wir maler uns geeinigt hätten. oder sagen wir, noch nicht.
gib uns noch einmal 35.000 jahre... ;)

steppenhund - 14. Dez, 10:20

@dr

Lieber David, ich war ziemlich unschlüssig, ob ich unterstellen sollte, ob es eine verbindende Notation gibt oder nicht. Deine lange Antwort bestätigt meine Wahl:) Obwohl in meiner Ahnenreihe einige Maler waren und die ererbte Bibliothek ganze Reihen von Kunstbüchern aufweist, kann ich dir vollinhaltlich zustimmen. Eine gemeinsame Notation in der Musik ist auch erst einige hundert Jahre alt, also vielleicht braucht es gar nicht weitere 35 000 Jahre.
Vielleicht trifft aber auch dein Sprachvergleich zu. Für mich hat ja Musik unabhängig von der Notation immer recht klare Sprachidiome besessen, auch wenn verschiedene Komponisten unterschiedliche Dialekte sprachen.
Manche Bilder sprechen zu mir. Ich habe festgestellt, dass sie dann sprechen, wenn ich mit dem abgebildeten Thema eine Nahebeziehung habe. So war z.B. "die drei Philosophen" von Giorgione von Kindheit her ein Lieblingsbild von mir. Ich kann mich an eine Ausstellung in Krems erinnern, die den Impressionisten gewidmet war. Die meisten Werke waren Monet, aber in einem kleinen Nebenraum gab es von jedem der damaligen franzüsischen Gruppe ein Bild. Diese Bilder gefielen mir weit besser als die der Hauptausstellung, weil jedes davon eine Geschichte erzählte.
Bilder haben vielleicht schon eine Sprache, aber sie ist sicher nicht genormt und möglicherweise eher einer Gestik verwandt, die man letztlich auch ohne Worte verstehen kann.
Woran ich allerdings in dem Zusammenhang denken muss, ist das Vorhandensein eines Kunstmarktes mit entsprechenden Kritikern und Bewertern. Aber die zugehörigen Gedankengänge muss ich erst ausarbeiten;)
david ramirer - 14. Dez, 12:46

malerei ist ja auch, im unterschied zur musik, eine enorm stille kunstform, die auf diese art dem lesen und deinen ausführungen zur fantasie wiederum sehr nahesteht. also eine kunstform, die hingabe erfordert, versenkung.

auf deine angekündigten gedanken zum kunstmarkt bin ich gespannt (hier schon ein paar von meinen zur einstimmung): wenn kunst und markt zusammenkommen, dann kommt dabei nur sehr selten etwas schlüssiges heraus, sei es auch noch so profitabel für die gewinner in diesem system... und das betrifft jede form von kunst.
das liegt wohl an den gesetzen des marktes, die mit den gesetzen in der kunst nicht allzuviel zu tun haben (deswegen kursiv, weil das wort hier leicht deplaziert daherkommt und missverstanden werden muss).
der kunstmarkt bewertet etwas unbewert- und eigentlich unbezahlbares, und das mit zum teil perversen ergebnissen: wenn ein mit diamanten beklebter platinschädelknochen um 75 millionen euro verkauft wird (zum teil von einem konsortium, dem der künstler selbst angehört), dann stellt sich die frage, wie viel macht der markt schon auf die aktuelle kunst hat (wobei das beispiel schlecht ist: denn manche lebende künstler machen sich über dieses system in ihrer arbeit schon lustig, obgleich ich die pointe nicht ganz verstehe).
oder aber ein bild von van gogh, das um mehrere millionen verkauft wird: längst bewertet hier niemand mehr den künstlerischen wert des bildes (der unbestritten ist), sondern den marktwert... und der steigt jedes jahr weiter.
steigt auch der künstlerische wert? ich denke, dass dem nicht so ist - da der künstlerische wert jedem (und selbst das ist vage) kundigen, offenen betrachter klar werden kann, und sich mit den jahren der beschäftigung vertieft. aber auf persönlicher ebene, nicht auf globaler ebene. so haben die sonnenblumen von van gogh im globalen geflecht heutzutage einen hohen marktwert und bei vielen menschen einen sehr hohen unbezahlbaren erfahrungswert - und auf den kommt es an. die im kunstmarkt tätigen bewerter und spezialisten nebst kritikern und gremien bewerten nach marktrichtlinien, und der kunstmarkt verwendet nacktes marketing, mit allen tricks die dazugehören (kataloge, ausstellungen, magnete für den eiskasten, postkarten, t-shirts und downloadable desktops).

ich bin ein relikt: ich glaube immer noch, dass kunst anders funktioniert und tief drinnen einer anderen gottheit als dem mammon folgt, und dass der markt nachher kommt und nicht vorher.
teacher - 14. Dez, 08:25

Ist Fernsehen das moderne Lesen? Es kann zur Droge werden, es kann aber auch bilden, entspannen, die Fantsasie fordern.
Es sollte eben - wie Wein - in Maßen genossen werden. Und nur in hoher Qualität. Wo ist die? Beim Lesen der Gratiszeitungen oder beim Fernsehen von Arte?

steppenhund - 14. Dez, 10:28

Ich habe mich anscheinend nicht klar genug ausgedrückt. Das Fernsehen steht vollkommen konträr zum Lesen.
In der Elektronik oder in der Informatik würde man sagen: das Fernsehen ist ein "Push"-Betrieb, das Lesen ein "Pull"-Betrieb.
Das Fernsehen entspricht dem Frontalunterricht des Lehrers. Er kommt in die Klasse, sein Auftreten bewirkt Disziplin, 45 Minuten lang erklärt er den Stoff, dann gibt es 5 Minuten Aufgaben bis zum nächsten Mal. Da gibt es fantastische Beispiele in meinem Leben. Unser DG-Professor (Darstellende Geometrie) in der Mittelschule war so. Genauso der DG Professor (Wunderlich) an der TU Wien, damals hiess das noch Technische Hochschule.
Die Vorträge waren bestechend und fast spannend zu nennen. Wer nicht mitkam, war selber schuld. Der musste sich die Information halt mit Kollegen erarbeiten.
Im Gegensatz dazu würde ein anderer Lehrer die Schüler an die Tafel holen, sie ein Beispiel zeichnen lassen und erkennen, wo die Verständnisschwierigkeiten liegen. Dort wo der Schüler an der Tafel versagt, versagen auch 15 andere Schüler, die es vermutlich auch nicht verstanden haben. Jetzt ist der Kristallisationspunkt gefunden, wo das Verständnis erst einmal erzeugt werden muss. Gelingt es, das Verständnis herzustellen, kann der Stoff sogar dann Freude machen, wenn er ursprünglich abgelehnt wird.
Vielleicht wird das Fernsehen als Surrogat für das Lesen gesehen, vielleicht sogar als bessere Alternative.
Doch das Fernsehen kann nicht die Kreativität fördern. Das Auge nimmt soviel auf, dass für das innere Auge keine Kapazität bleibt.
Das ist auch gut so, denn wäre es anders, müsste ich befürchten, dass ich auf dem Weg in die Firma drei mal umgebracht würde. Schließlich ist unser Fernsehprogramm ja prädistiniert dafür, sich zu überlegen, wie man den perfekten Mord begeht.
la-mamma - 14. Dez, 13:39

dass fernsehsendungen (und wenn sie noch so gut gemeint und gemacht sind) bilden können, bezweifle ich auch generell. einzige ausnahme: diejenigen, die die sendung machen - die müssen recherchieren, über das auszuwählende nachdenken, also womit auch immer ARBEITEN = eine eigene geistige leistung vollbringen - und nur so behalten sie auch ihr dadurch gewonnenes wissen.
steppenhund - 14. Dez, 17:15

@la-mamma

Das finde ich eine geschickte Betrachtungsweise. Ich stimme dir 100% zu, dass die Macher vielleicht etwas lernen.
Ich erweitere noch, dass ich auch bei einigen Sendungen etwas lerne, behaupte aber, dass das nur möglich ist, weil ich das auch erlernen könnte, wenn ich es nur im Buch lese.
Dass man mir nicht alles vorkauen muss, sondern dass ich mir selbstständig bestimmte Inhalte erarbeiten kann, führe ich wirklich auf den Umstand zurück, dass ich lesen gelernt habe.
logo

auf 70 steuernd

die Erfahrungen genießend

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Nachtrag zu diesem Jahr
Abschluss der Musikaktivitäten Die Leistung des Jahre...
steppenhund - 10. Dez, 18:59
Langsamer Abschied
Долгое прощание - Langsamer Abschied Dieses Buch von...
steppenhund - 13. Nov, 12:01
Aleksandra Mikulska
Es gibt drei Pianistinnen, die ich ganz hoch einschätze,...
steppenhund - 22. Okt, 14:44
Quietschen
Q U I E T S C H E N Als ich gestern nach dem Aufstehen...
steppenhund - 20. Okt, 12:36
Ich liebe meinen Induktionsherd....
Ich liebe meinen Induktionsherd. Brauchst auch den...
la-mamma - 18. Okt, 18:10

Meine Kommentare

wenn Sie der Lehrer meiner...
würde ich mich wundern, dass Sie nicht auf meinen Kommentar...
abohn - 7. Mai, 09:56
Gut gewagt!
Ein sehr ansprechender Text! So etwas würde ich auch...
abohn - 25. Apr, 15:30
Eigentlich habe ich deinen...
Eigentlich habe ich deinen Sohn erkannt. Der ist ja...
lamamma - 27. Mär, 12:44
Überrascht
Ich bin wirkliich überrascht, dass gerade Du lamentierst....
lamamma - 26. Mär, 15:30
Wobei nähen sich ja viel...
Wobei nähen sich ja viel direkter geboten hätte.
Schwallhalla - 26. Feb, 10:30

The bridge


Bloggen
Computer
ernst
Familie
Film
fussball
Icebreaker
Ist das jetzt das Alter
Kino
Kultur
Leben
Lesen
Musik
nichttägliche Mathematik
Philosophie
Politik
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren