20
Mai
2013

1848 oder 1914

Vor wenigen Tagen habe ich "Nachtzug nach Lissabon" gesehen, gestern "Gorky Park". Über "Gorky Park" werde ich vermutlich noch einmal gesondert schreiben. Über Lissabon und den Filmverriss durch kluge Kritiker fielen mir in den letzten Tagen allerdings ein paar Dinge ein, die mich - vor 10 Jahren hätte ich Wut, oder vor 5 Jahren Verachtung geschrieben - mit einer gewissen Trauer und Gewissheit erfüllen, dass die kommenden Generationen um Weltkriege, Genozide, Inquisition und Brutalität nicht umhin kommen werden.
Drei Kritikpunkte sind bei mir haften geblieben, wobei ich den Begriff Europudding nicht kannte, der in mehreren Kritiken vorkam. Aber den schreibe ich Schreiberlingen zu. Solche Stillblüten überlasse ich anderen zur Anprangerung.
Punkt 1: Wie kann sich jemand in einen Zug ohne Gepäck setzen? (Immerhin sind es ja doch einige hundert Kilometer.)
Punkt 2: Wieso muss der nie das Handy aufladen?
Punkt 3: Die Schauspieler spielen alle nur für sich selbst und nicht miteinander.
Meine Stellungnahme:
zum Punkt 1: ich habe das auch schon gemacht. Es gab auch eine Zeit, da fuhr ich nicht ohne Pass in die Firma, (eigentlich habe ich auch heute den Pass immer dabei) weil es heißen hätte können: "Packen Sie ein, um 11:55 geht Ihr Flieger." Der wäre nach Moskau gegangen. Ich glaube, die Abflugszeit ist auch heute noch die gleiche geblieben.
Ich wünsche dem Kritiker, dass er bei seinen nächsten drei Reisen, den Koffer erst drei Tage später nachgeliefert bekommt, weil er statt nach New York nach Singapore verschickt wurde. So viel zur Wichtigkeit von Koffern.
zum Punkt 2: Es soll eine Zeit gegeben haben, als Handys noch eine Woche lang für Gesprächsbereitschaft gehalten haben. Erst mit der Erfindung der Smartphones, die in Wirklichkeit nichts anderes als kleine Computer sind, fing das Aufladedilemma an. Dass sich heutige "Filmkritiker" eine Zeit vor den Smartphones gar nicht mehr vorstellen können, deutet nicht auf eine Schwäche eines Films hin sondern vielmehr auf die absolute Imbezibilität mancher Zeitgenossen.
Es soll auch schon vorgekommen sein, dass man sein Ladegerät vergessen hat. Dann kauft man sich um 10 € ein neues und jetzt erhebt sich nur mehr die Frage, warum das Aufladen nicht gezeigt wurde.
Offengestanden will ich auch das Scheißen nicht im Film sehen. Manchmal ist Kotzen notwendig, um einen Handlungsstrang zu untermalen, doch selbst die Softcore-Pornoszenen in manchen Filmen gehen mir furchtbar auf die Nerven. Wenn ich Porno sehen will, dann schaue ich mir Porno an und warte nicht, bis in einer Liebestragödie die Protagonisten einmal ins Bett gehen, um einen Busen oder einen gefakten Geschlechtsverkehr zu sehen.
zum Punkt 3: Offensichtlich spielen Schauspieler wie Bruno Ganz, Charlotte Rampling, Jeremy Irons, Martina Gedeck oder Christopher Lee ihr ganzes Leben lang nur für sich selbst. Deswegen sind sie ja auch so berühmt geworden, weil sie für Kammerspiele ungeeignet sind. Bruno Ganz zum Beispiel hat den Iffland-Ring nur deswegen bekommen, weil er den Faust in einer Ein-Personenáufführungen glaubhaft dargestellt hat.
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Das sind alles nur kleine Details, die noch nicht das Hauptdilemma aufzeigen. Der Film wird als "zu gemütlich" gebrandmarkt - mit Postkartenphotos von Lissabon. Dass gerade dies eines der zwei Hauptthemen des Buches und des Filmes ist, wird vollkommen übersehen. Ja, man sitzt gemütlich im Sessel und sieht sich etwas an, was anderswo passiert ist. Irgendwo gab es eine Diktatur, irgendwo gab es einen Widerstand, - da hätte man doch eine packende Dokumentation über das Salazar-Regime machen können. Da kämpfen Menschen um ihr Leben, doch was geht uns das an. Unser Lebensstandard ist gesichert. Wir bewegen uns zwischen Song-Contest und "einer wird gewinnen" - wo immer auch - in einem Neo-Biedermayer. Die Leute haben einst die Metternichsche Geheimpolizei und Spitzelei gefürchtet und sind in die innere Emigration des Zuhauses geflüchtet. Wir machen das heute genauso und irgendwann wird uns 1848 oder 1914 ereilen. Wir werden Opfer von Hassmotivationen werden, die man sublimimal in Werbekampagnen versteckt hat. Wir werden es glauben, dass bestimmte Volksgruppen oder ganze Religionsstämme vernichtet werden müssen. Und wir werden jede Ausrede glauben oder erfinden, warum das umbedingt so sein muss. Und vielleicht werden wir auch einmal in einem Zug sitzen müssen, ohne irgendetwas von unseren Habseligkeiten mitnehmen zu können.

Aber das macht man doch nicht!
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abohn - 25. Apr, 15:30
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lamamma - 26. Mär, 15:30
Wobei nähen sich ja viel...
Wobei nähen sich ja viel direkter geboten hätte.
Schwallhalla - 26. Feb, 10:30

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