8
Feb
2011

Arbeitslosigkeit und Umschulung

kürzlich bin ich auf einem anderen Blog angeeckt, weil ich gemeint habe, dass Arbeitslose einmal einen Monat bezahlt bekommen sollen, dabei nur drei Bücher lesen sollen und danach abgefragt werden. Die Kritik sprach von Grundschülermethoden, stufte mich als überheblichen Bessermenschen ein und sprach von NORMALEN MENSCHEN, die alle anders sind.

Offensichtlich bin ABNORMAL. Ich bin deswegen abnormal, weil ich nicht zustimme, dass alle Menschen die gleichen Chancen zum Studieren bekommen sollen. Dabei wird das Wort "gleich" sehr missverstanden. Unter gleich wird verstanden, dass alle gleichermaßen studieren können sollen. Das sehe ich als falsch an. Ich finde, dass Menschen, die nicht so begabt sind, nicht gleich behandelt werden sollen. In vielen Fällen sollten sie besser behandelt werden, man sollte ihnen mehr Zeit widmen, als denen, die eh alles von selbst kapieren. Aber daraus leitet sich nicht der Chancengleichheitsgrundsatz für die Uni ab.

Ich nehme einen Grenzfall. Eine deutsche Schauspielerin, den Namen müsste ich erst wieder herausfinden, nimmt ihre Tochter mit Downsyndrom auf die Bühne mit. Um solche Kinder darf man sich nicht "gleich" kümmern. Man muss viel mehr Aufwand hineinstecken. Allerdings ist es ein Geben und Nehmen. Alle Menschen, die Erfahrungen mit Down-Syndrom-Menschen haben, bestätigen, dass die Liebe, Dankbarkeit und Freude, die zurückstrahlt, für kein Geld der Welt zu kaufen wäre.

Ich nehme einen anderen - nicht Grenzfall - sondern durchaus verbreiteten Fall. Ob ein Kind mit sechs oder sieben Jahren eingeschult wird, hängt von vielen Faktoren ab, z.B. dem Ehrgeiz der Eltern, den wirtschaftlichen Verhältnissen, eine Schulpolitik. Ich habe es selbst an Schulkollegen erlebt, die zu früh eingeschult wurden. Sie wurden selbst von den Schülern für faul und vertrottelt gehalten. Einer von denen hat seinen Doktor gemacht und führt ein - soweit von außen beurteilbares - gutes Leben. Er war einfach zu früh dran.

Ich glaube, dass einige Menschen, die sich in der Schule verweigern, später nie mehr diese Rückbesinnung erleben können, wie es ist, etwas lernen zu können. Nach meiner Erfahrung richten sich alle Workshops, Seminare, Ausbildungskurse an "Erwachsene", von denen man annimmt, dass sie lernen können. Das Lernen kann aber imho nur durch ziemlich archaische Methoden gelernt werden: Aufgaben bekommen, üben und solange üben, bis etwas wirklich internalisiert wird. Wenn das in einer Disziplin gelingt, so geht das auch in anderen Fächern und dann können Umschulungen oder Weiterbildungen anschlagen.

Doch ohne das eigentlich Lernen gelernt zu haben, ohne sich selbst hinterfragen zu können, ob man etwas wirklich beherrscht, halte ich Seminare zwar für nette Abwechslungen, für angenehme "incentives", doch es ist so, wie es Tom DeMarco einmal in einer Keynote-speech ausgedrückt hat. Chef: "Na Herr Müller, waren Sie bei dem Chopin-Workshop letzte Woche bei Pollini?" - freudiges "Ja". "Hat es Ihnen gefallen? Haben Sie etwas gelernt." etwas neutraleres "Ja". "Wunderbar! Spielen Sie mir doch einmal die Revolutionsetüde vor!"

Wenn alle das gleiche Recht zum Studieren haben sollen, müssen sie auch mit gleichem Wissensstand das Studium beginnen. Wie soll der gesichert festgestellt werden?
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hans1962 - 8. Feb, 15:43

Ich weise darauf hin, dass der erste Absatz dieses Beitrags, auf dessen Inhalt andernorts kritisch Bezug genommen wurde, in keinem augenfälligen Zusammenhang mit dem Rest des Beitrags steht.
Worum geht es?
Geht es um Arbeitslose, die nicht lesen können/wollen/whatever und deshalb keine Erwerbsmöglichkeit bekommen sollen oder geht es um abzulehnende Chancengleichheit in der Ausbildung?

steppenhund - 8. Feb, 16:43

Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass Lernen etwas ist, was zwar tunlichst in Jugendjahren gelernt werden sollte, das aber genauso nachgeholt werden muss, wenn man es irgendwann versäumt hat.
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Die Menschen, die dafür zu sorgen haben, sollen durchaus auch bei Erwachsenen die Methoden anwenden, die sonst bei Kindern angebracht sind.
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Dass nicht alle Arbeitslosen über den gleichen Leisten zu scheren sind, ist ein Wissen, dass man mir eigentlich schon zutrauen sollte.
steppenhund - 8. Feb, 16:44

Im übrigen geht es nicht um das Lesen sondern um die Möglichkeit, sich etwas autodidaktisch erarbeiten zu können.
hans1962 - 8. Feb, 19:07

Ich räume durchaus ein,

dass meine Fragestellung etwas zugespitzt ausgefallen ist.

Nehmen wir also an, dass Arbeitslose sich im Wege einer Prüfung erst als umschulungswürdig erweisen müssen, bevor ihnen wieder eine ausreichend dotierte Erwerbsmöglichkeit eröffnet wird. Wer durchfällt, ist selbst schuld und geht Taxifahren oder im Supermarkt aushelfen.

Denken wir doch der Sache einmal ein wenig unter die Oberfläche:
Ist er, der Durchgefallene, wirklich selbst schuld? Ja? Seit wann?
Seit er als Einjähriger von seinen Eltern aus dem Weg geschoben und vor dem Fernseher ab- und ruhiggestellt wurde? Wohl kaum.
Seit dem Zeitpunkt seines Schuleintritts? Wird auch kaum jemand vertreten wollen (wie ich zumindest hoffe).
Seit dem Ende der Schulpflicht, also ab dem Alter von 15, 16? Da wird es langsam spannend: Weshalb wäre er jetzt selbst schuld an seiner nicht erworbenen (man könnte vielleicht auch sagen: vorenthaltenen) Umschulungswürdigkeit?

btw: Die verwendeten Bezeichnungen drüben sind Ausweis der Unfähigkeit zur sachlichen Diskussion bzw. Auseinandersetzung.
david ramirer - 9. Feb, 07:30

@steppen&hans
diese diskussion hat die tendenz, immer aus dem ruder zu laufen, egal wo sie auch geführt wird. auch ich hätte hier gestern fast ein längeres kommentar geschrieben, bremste mich aber dann ein.
jetzt, heute, besonnener, muss ich bemerken, dass der begriff der "schuld" alles in ein neues licht rückt: denn dieser ist hier völlig deplatziert. es geht nicht um "schuld", sondern um "verantwortung" für eigene entwicklung. die muss das system genau in dem maße übernehmen, wie jeder einzelne auch. selbst im offensten und perfektest fördernden system wird es menschen geben (müssen), die sich dem tiefgehenden lernen verweigern (wollen) und dafür auch selbst die verantwortung zu übernehmen haben.
es sollte nicht vergessen werden, dass man selbst auch "teil des rahmens ist" - und es im laufe der jahre immer mehr wird.
die entscheidungen der verweigerung, die ein kind trifft, sind ebenso zu respektieren wie die eines erwachsenen menschen - und am schwersten wird eine solche entscheidung dem menschen selbst fallen... auch wenn er erst später merkt, warum.
solche entscheidungen sollten aber nicht entwertet werden - denn sie gehören zur persönlichkeit eines menschen - und zum ganzen gefüge des lebens untrennbar dazu: jeder versuch, daran zu drehen, hat ins chaos geführt.
vielleicht "lernt" die menschheit das auch einmal. vielleicht.
rosenherz - 8. Feb, 18:33

Offensichtlich bin ich ABNORMAL. - Ist das nicht verrückt, der Glaube an die Norm aller ist normal, während das Abweichen davon als abnormal bezeichnet wird - im Sinne einer Abwertung. Es könnte genausogut auch anderes heißen, zum Beispiel ponormal.
Den Begriff po (kleingeschrieben) wurde vor vielen Jahren von Edward de Bono erfunden, und hat potentiell mit der Vorwärtsbewegung einer Idee zu tun. De Bono benutzt po (Abkürzung für provokative Operation) als Hinweis darauf, wenigstens zeitweilig in einem "Bewegungssystem" zu operieren (denken) und nicht in einem "Urteilssystem". Darum geht es bei der "Fähigkeit" zu denken, meint de Bono im Zusammenhang mit dem lateralen Denken.

david ramirer - 9. Feb, 07:24

offenbar bin auch ich ABNORMAL (und froh darüber) - denn das wort "po" kenne und schätze ich in ganz anderem (bisweilen auch durchaus lateralem) zusammenhang und finde es immer wieder erstaunlich, wie unkreativ manche menschen in ihrer begriffsfindung sind.
steppenhund - 9. Feb, 13:51

@alle

ich bin mir bewusst, dass meine Stellungnahme sehr pointiert und vielleicht extrem scheinen muss.
Als wichtigster Beitrag der Kommentatoren und -innen erscheint mir das Einbringen der "Schuld". Ein Kind kann wohl schwer schuldig sein, wenn seine Eltern es verabsäumen, den Nutzen von Lernen oder Bildung zu vermitteln.
Jetzt gibt es Menschen, die aus eigenem Antrieb versuchen, das Versäumte nachzuholen, weil sie im Leben beobachten können, dass es mehr gibt als Fressen und Saufen, ja dass man seine eigene Lebensqualität sehr stark verbessern kann, wenn man einen breiteren Horizont gewinnt.
Und es gibt andere, für die ist das Lernen nach der Schule abgehakt. "Wie gut, dass ich nichts mehr lernen muss!"
Da sehe ich für mich den Zug abgefahren. Wer froh ist, dass er nichts lernen muss, der auch auf nichts neugierig ist, kann keiner sein, mit dem ich Mitleid empfinde.
Vielleicht kann ich auf diese Weise klar stellen, dass ich nicht alle Arbeitslosen als die GLEICHEN NORMALEN betrachte.
(Ganz abgesehen davon, dass wir vom AMS schon sehr tüchtige Mitarbeiter bekommen haben.)

Jossele - 9. Feb, 14:33

Man könnte von Schuld sprechen wenn es eine Ursache für Arbeitslosigkeit geben würde, was ja nicht der Fall ist, also würde ich das Problem nicht so sehr am Arbeitslosen an sich fest machen.
Arbeitslos wirst du auch, wenn du das Pech hast, antiquierte Fähigkeiten, durchaus professionell, zu beherschen, oder halt den gewünschten Profilen, wie jung, billig, entsprechender Praxiserfahrung etc. nicht zu entsprechen.

Gleichwohl, ich habe ja schon Lehrlinge ausgebildet, dies habe ich wohl feststellen müssen, der Wille zum Lernen nimmt stellenweise rapide ab.
Ich sag´s mal überspitzt, "Hier bin ich, Krone der Schöpfung, macht´s was aus mir" (ohne eigenes Zutun), nimmt schon immer mehr Raum.

Die Idee mit dem Bücherlesen halte ich für gar nicht soweit hergeholt.

So gesehen, halte ich den Menschen sehrwohl "auch" selbstverantwortlich für sein Dasein.
hans1962 - 9. Feb, 21:19

Auch wenn

durch Steppenhunds jüngsten Kommentar zu diesem Beitrag das Thema als beendet zu gelten hat, möchte ich dennoch meinen oben begonnenen Gedanken zu Ende führen dürfen.

Wer in der Entwicklung seiner intellektuellen Fähigkeiten durch das Elternhaus nicht gefördert werden kann, soll subsidiäre Förderung durch das Schulsystem erfahren. So ist das Schulsystem jedenfalls verfasst.

Wer in der Entwicklung seiner intellektuellen Fähigkeiten durch das Elternhaus behindert wird - allem voran durch offen vorgeführte Aversionen gegenüber jedem "Wissen" und jedem "Verständnis" - müsste vom Schulsystem aufgefangen werden. Die Überwindung von sozialen Barrieren beschränkt sich nicht bloß auf die Möglichkeit zur Befreiung aus materieller Not, sondern betrifft selbstverständlich insbesondere die Aufweitung von Enge im Geist. Um letzteres zu bewerkstelligen, bedarf es selbstredend zumindest eines Lehrers, der seine Pflichterfüllung nicht nur in der termingerechten Abarbeitung eines Lehrplanes erlebt, sondern darüber hinaus dem jungen Menschen durch die eigene beispielgebende Haltung Ankerpunkte ermöglicht, sodass der junge Mensch selbst zu einer veränderten Lebenshaltung finden kann.

Falls das in der Schule gelingt, bedarf es auch der geeigneten Unterstützung bei der Ablösung aus einem bildungsfeindlichen Milieu. Wer sich ernsthaft mit familiären Systemerhaltungskräften beschäftigt hat, weiß, wie aufwendig und schwierig dieses Unterfangen werden kann.

Wo solche Befreiung, diese Emanzipation nicht gelingt - solch Scheitern ausschließlich dem Unwillen des Betroffenen zuzuschreiben, wäre schlicht so unangemessen, wie unverständig - haben wir es mit Mitmenschen zu tun, die sozial bedingt "vergiftet" blieben. Aber auch für diese Betroffenen besteht im späteren Erwachsenenleben noch die in der Regel aussichtsreiche Möglichkeit, eine Änderung der Lebenshaltung zu erreichen. Das ist allerdings ausgesprochen ressourcenintensiv und erfordert meist einen erschütternden, um nicht zu sagen: destabilisierenden - Impuls von außen, dem Leben schlechthin.

Die Erkenntnis, "wie es hätte gewesen sein können", ist wohl die schmerzhafteste Erkenntnis, die der unerbittliche Mensch sich selbst antun kann. Dass ihm diese "Weisheit" von anderen aufgesetzt wird, spielt im Vergleich dazu eine völlig unbedeutende Rolle. Nichtsdestotrotz ermächtigen sich andere unter Berufung auf ihre eigene unbegründete Phantasie, für jenen Mitmenschen zu befinden, dass er es in der Hand gehabt hätte.

Damit möchte ich meinen Gedankengang abschließen, obgleich die drängende Fortsetzung wohl auf der Hand liegen dürfte.
Köppnick - 20. Feb, 09:50

Die Gleichbehandlung, also z.B. Einschulung mit 6 und dann klassenweises Vorrücken, ist ein Ergebnis des Bestrebens von Kaisern und Königen, einen weitgehend einheitlichen Bildungsstand ihrer Rekruten beim Militär zu haben. So ließen sich besser Kriege führen. Und für die Industriearmeen der beginnenden Industrialisierung war das auch gut.

Wenn sich auch die Entwicklung durchschnittlicher Kinder weitgehend synchron vollzieht, gilt das für die Besten und die Schlechtesten nicht. Um also diese Kinder bezüglich ihrer Bedürfnisse gleich zum Durchschnitt behandeln, muss man sie ungleich dem Durchschnitt fördern. Aber eigentlich ist das eine themenübergreifende Binse: Chancengleichheit bedeutet Verteilungsungleichheit.

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