19
Mai
2014

Paralipomena

In der KI-Forschung oder in der Beschreibung derselben kreist die Argumentation häufig um dasselbe Thema: kann ein "Computer" Bewusstsein erlangen -oder besser ausgedrückt, kann er sich seiner bewusst werden. (Das er könnte genauso sie oder es geschrieben werden, darauf kommt es nicht an.)
Interessanter erscheint mir die Frage, ob sich ein Computer eines anderen Bewusstseins bewusst werden kann. Mir scheint, dass die Informatiker immer von einer Art Sollipsismus ausgehen.
Das Kleinkind wird als perfekter Egoist geboren. Es muss schauen, wo es bleibt. Die eigentliche Entwicklung des Menschen beginnt dort, wo er die anderen wahrzunehmen beginnt.
Eine Entwicklung in der KI müsste sich dieser Fragestellung widmen. Dazu habe ich aber bis jetzt noch nichts gesehen.
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16
Mai
2014

aus 2041/18

"Passen Sie auf, ob in einer Konversation oder einer schriftlichen Nachricht der Code 'XYZZY' auftaucht. Das klingt sehr einfach, aber wir haben festgestellt, dass lange Codes nur Aufsehen versorgen, falls sie irgendwo in ein elektronisches Medium geraten. Dieser Code ist einer der ältesten und hat einmal zu einem Spiel gehört. Niemand kennt das mehr und vor allem nicht seine Funktion.
Jetzt machen Sie noch möglichst viel sight seeing und benehmen Sie sich wie ein neugieriger Tourist. Wenn Sie zuhause sind unternehmen Sie nichts, was Sie nicht in der letzten Zeit gemacht haben. Sie müssen aus dem unmittelbaren Beobachtungshorizont herausfallen, bevor wir sie kontaktieren können. Sie verstehen, warum das so sein muss?"
Hartmut nickte. "Bin ich jetzt in Lebensgefahr?"
"Hoffentlich nicht. Wenn Sie sich im Weiteren unauffällig verhalten, sollte das System keinen Verdacht ausweiten. Wir gehen beim Hintereingang hinaus."
Veronika zeigte ihm noch, wo es in Richtung Naschmarkt ginge. Der war zwar kein Markt mehr aber noch immer eine Sehenswürdigkeit wegen der Häuser, die ihn begrenzten. Hartmut sollte sich hauptsächlich in der Nähe von Sehenswürdigkeiten aufhalte.

Als Hartmut wieder bei sich zuhause war, grübelte er darüber nach, warum er Veronika gesagt hatte, dass er nichts über Geschichte wusste. Es stimmte, dass er nichts über lang vorüber liegende Epochen wusste. Doch seine Bücher, die er selbst besaß, berichteten eindeutig über eine Zeit vor dem Jetzt. Eine Zeit, in der Terrorakte passierten und die Menschen sich nicht vertrugen. Die Zeit, bevor Wolfram erpresst worden war.
Er fragte sich, ob der Ausdruck Erpressung zutraf. Wenn es eine Erpressung gegeben hatte, war danach alles zu besseren gesteuert worden. Doch wie er bisher verstanden hatte, war es die Sucht nach Eigentum, die die Menschen zu den ungeheuerlichsten Aktionen trieb. Kriege waren ein großer Gewinn für die so bezeichneten Kriegsgewinnler. Jetzt stellte sich die Frage, welchen Gewinn erhoffte sich der Erpresser, wenn er diese Gewinnquellen abdrehte.

Diese Frage hatten sich schon andere gestellt. Zum Beispiel Wei Liu hatte seit der Umstellung seiner Organisation große Gewinne gemacht, aber sie kamen aus anderen Quellen als bisher. Glückspiel wurde in manchen Ländern ja vom Staat direkt betrieben. Es konnte also nicht so kriminell sein. Den Mädchenhandel hatte er selbst nie besonders geschätzt, er gehörte nur dazu, um die niederen Chargen in seiner Organisation zu befriedigen. Wei Liu besaß Kunstwerke in seinem Haus. Darunter waren auch sehr wertvolle Kalligraphien mit Sprüchen von Kong Qiu. Das Gefühl verstärkte sich in ihm, dass der Spruch "Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir - für immer." mehr und mehr für ihn wirkte. Anfangs wurde ihm noch mehrmals im Monat bedeutet, dass bestimmte Personen zu liquidieren seinen. Die Frequenz nahm ab. Nach drei Jahren waren es nur mehr zwei Personen im Vierteljahr. Bei den Organisationen, die sich seiner angeschlossen hatten, war es ähnlich. Er hatte den Überblick, weil er die Namen weitergab.
Eines Tages beschloss er, ein Treffen zu organisieren. Da er wusste, dass er überall attackierbar war, rechnete er sich aus, dass er auch überall beschützt würde und hielt das Treffen im Hölzernen Drachen ab. Es waren sechs Leute zugegen, neben Wei Liu und Chen nahmen Yang Li und drei weitere Drachenköpfe teil. Der Geschäftsteil dauerte nur fünf Minuten. Alle Organisationen hatten ansehnliche Gewinne erwirtschaftet-
Danach wurde das Menü "Goldene Erde" mit dreiunddreißig Gängen aufgetragen und Fen-Schnaps zum Abschluss gereicht.
Bevor zum ersten Mal gemeinsam geprostet wurde, ergriff Wei Liu das Wort.
"Wie Sie wissen, hat sich einiges in unseren Organisationen geändert. Ich glaube, dass Sie mir zustimmen werden, dass wir uns verbessert haben. Darauf trinken wir." "Ganbei", - "Ganbei" ... ging es um den runden Tisch.
Wei Liu setzte fort. "Ich gehe davon aus, dass wir alles erreicht haben, was wir für uns wünschen. Gibt es jemanden, der Wünsche offen hat." - "bù shi", "bù shi", ... Alle verneinten.
"Die nächste Frage scheint überflüssig. Aber ich stelle sie jetzt und erwarte eine ehrliche Antwort: "Möchte jemand meine Position haben?" Es trat eine Stille ein, die mehrere Minuten dauerte. Dann meldete sich Chen. "Verehrter Meister. Nehmen wir an, ich würde das wollen. Woher würde ich dann einen Ersatz für mich finden?" Vier Personen schauten etwas betreten drein, doch dann sahen sie, dass ein leises Lächeln den Mund von Wei Liu umspielte. Darauf gab es ein lautes Prusten und Lachen der Erleichterung.
Wei Liu ließ die Bombe platzen: "Wir müssen etwas der Gesellschaft zurückgeben. Wir müssen die Armen unterstützen. Wie Sie gesehen haben, wird unethisches Verhalten bestraft. Wir haben bis jetzt immer gedacht, dass es uns zusteht, das Geld anzuhäufen. Wir haben rechtmäßig gehandelt, weil nur wir konsequent, mit Gesetzen und deren Durchführung handeln. Es gibt keine Korruption in unseren Reihen. Wir sind die bessere Regierung. Daher sollten wir von unserer Macht Gebrauch machen.
Ich habe für jeden von Ihnen ein Geschenk." Er winkte Chen, der widerum eine Handbewegung in Richtung Türe machte. Diese öffenete sich und einer der Chaufeure kam mit einer Schachtel herein. Yang Li und die anderen erblassten. Es war wie ein klassisches Exekutionsszenario wie sie früher üblich gewesen waren. Als der Deckel der Schachtel geöffnet wurde, war Erleichterung anzumerken. In der Schachtel befanden sich lediglich vier Schriftrollen. Chen stand auf und nahm eine nach der anderen heraus und händigte sie den übrigen Teilnehmern aus.
Wei Liu, dem die Besorgnis der Gäste nicht entgangen war, erklärte: "Diese Schriftrollen sind eine Kostbarkeit. Ich habe Sie von einem der größten Kalligraphie-Experten, die es heute gibt, anfertigen lassen. Sie finden darauf eine Weisheit von Kong-Qiu. Studieren Sie sie und handeln Sie danach. Ich bin sehr gespannt, welche Erfahrungen Sie damit machen werden, wenn Sie nach ihr handeln."
Die Gäste blickten verblüfft und ratlos. Keinem war es möglich, die Kalligraphien zu entziffern. Keiner wollte zugeben, dass er nicht wusste, was darauf stand.
Wei Liu meinte leichthin: "Sie verfügen über genügend Resourcen, um sich eines Kalligraphen zu versichern, der Ihnen die Weisheit deuten wird. Glauben Sie mir, es steckt ein sehr tiefer Sinn darin. Ich selbst beginne gerade, die außerordentliche Macht zu erkennen, die darin steckt. Ich teile diese Macht gerne mit Ihnen.
Wir treffen uns in drei Monaten wieder. Dann sprechen wir über ihre Erfahrungen."
Als Wei Liu nach Hause gekommen war, überfielen ihn Zweifel. Hatte er richtig gehandelt? Was würden seine unbekannten Auftraggeber sagen? Er musste nicht lange warten und sein Telefon läutete. Am Apparat war eine Frauenstimme. "Guten Abend. Sie haben heute etwas begonnen, von dem nicht bekannt ist, welche Auswirkungen zu erwarten sind. Wir hätten es nicht von Ihnen erwartet, dass Sie einen derartigen Alleingang unternehmen. Für uns ist es sehr interessant, was heute passiert ist. Wir werden es weiterhin verfolgen. Wir sind nicht einverstanden damit, dass Sie so gehandelt haben. Wir haben allerdings eine ähnliche Aktion von Ihnen erwartet, welche war unbekannt. Der Umstand, dass Sie etwas machen, was sich gegen unsere Interessen richten könnte, war Grund, Sie für Ihre Rolle auszusuchen.
Wir haben beschlossen, unser Vertrauen in Sie zu vergrößern. Sie werden dies anhand eines Geschenks sehen, welches Sie in Kürze erhalten werden. Guten Abend." Unmittelbar nach ihrer Ansprache legte die Frau auf. Gleich darauf läutete es noch einmal. Es war Chen. "Ein Geschenk ist für Sie abgegeben worden. Keine Waffe, keine Chemikalien. Es sieht aus wie ein Buch." - "Gut, bringen Sie es mir."
Als Wei Liu das Buch in den Händen hielt, lächelte er mit ernstem Gesicht, nur seine Augen lächelten, sein Mund verzog sich nicht. Er hielt ein Buch in Händen, dass er als Zwanzigjähriger zum ersten Mal gesehen hatte. Durch eine Plexiglasscheibe, gesichert durch eine Alarmanlage, war das Exponat mit "Mawangdui Seidentexte" beschrieben gewesen. Jetzt befand sich in seinen Händen eine der ältesten Niederschriften des I-Ging. Im Behälter, in dem das Buch gewesen, befand sich ein kleiner Zettel. "Bitte möglichst verschlossen aufbewahren, Temperatur 18% C, Luftfeuchtigkeit 42%. Möge Ihnen Lao-Tse ebenso zusagen wie Konfuzius."
Vorsichtig legte Wei Liu das Buch wieder in den Behälter, nachdem er zuvor den Zettel herausgenommen hatte. Er rief Chen. "Bitte versorgen Sie das sorgfältig und besorgen Sie mir ein Buch der Wandlungen, dass ich lesen kann."
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Wir sollten mehr hergeben, wo kam das sonst noch vor?





xyzzy war ein Magic Word, welches es ermöglichte in einem der ersten Computerspiele aus einem Labyrinth ununterscheidbarer Gänge heraus zu kommen.
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15
Mai
2014

aus 2041/17

Für meine drei urgierenden Leserinnen und Leser

"Sie müssen sich Folgendes vorstellen:
Unsere Infrastruktur funktioniert hervorragend. Darüber kann kein Zweifel bestehen. Viele untergeordnete Tätigkeiten werden von Maschinen durchgeführt, die anscheinend kaum Wartung benötigen. Wie viel Einwohner hat die Erde zur Zeit?" Hartmut meinte: "Heute weiß ich es gar nicht. Als ich noch arbeitete, gab es eine Zahl von neun Milliarden."
"Ja, es sind auch heute noch neun Milliarden, so ungefähr. Und diese Zahl scheint nicht zuzunehmen, obwohl wir keine Kriege mehr kennen. Können Sie sich vorstellen, wie man neun Milliarden Menschen zufriedenstellen kann, ohne dass Sie irgendwo Revolutionen oder unzufriedene Menschen haben? Es ist eigentlich unmöglich, dieses als wirklich anzunehmen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder werden die Informationen, die zu uns gelangen, gefiltert oder es gibt ein überdimensionales Kontrollsystem, welches alle Konflikte bereits im Ansatz regelt. Was wissen Sie über Geschichte?"
Hartmut dachte nach: "Eigentlich nichts. Das ist ja der Grund, warum ich nach Quellen suche."
"Sehen Sie, das ist der springende Punkt. Es gibt keine Quellen mehr. Mit ganz wenigen Ausnahmen. Früher haben die Kinder noch Geschichte gelernt. Sie haben über Kriege erfahren und über die grenzenlose Unbelehrbarkeit der Menschen, welche dieselben Fehler in allen Zeiten wiederholt haben. Die Gründe waren meistens die gleichen. Jemand wollte Macht. Warum er das wollte, war durch wenige Auslöserfaktoren begründet. Manchmal war es nur ein kleiner physischer Defekt, den der Betreffende kompensieren wollte. Manchmal war es einfach der Wunsch nach Besitz, nach Geld, mit dem man sich Sex kaufen konnte. Dazu kam noch der Wunsch nach Unangreifbarkeit. Das alles haben die Kinder gelernt. Heute wissen es nicht einmal die Erwachsenen. Sie erfahren nichts und sie können es auch nirgendwo nachlesen. Können Sie mir folgen?"
Hartmut nickte: "Aber woher wissen Sie denn das alles?"
"Wir sind die 'Bösen'. Wir lehnen uns gegen das System auf. So wie wir es immer getan haben, als Anarchisten, als Rebellen. Doch mittlerweile hat sich unser Beweggrund geändert. Wir rebellieren nicht mehr gegen das System. Das wäre absolut zwecklos. Es ist stärker. Wir haben viele Freunde verloren, wobei wir am Anfang gar nicht wussten, wie sie enttarnt wurden. Es gab auch keine Verfolgung. Die Freunde verschwanden einfach."
Hartmut schüttelte bedauernd den Kopf: "Und was ist Ihr Beweggrund heute?"
"Dazu später. Ich frage Sie, warum sind die Menschen heute zufrieden? Warum heute, warum nicht früher?"
Hartmut hatte keine Antwort.
"Sie kennen nur ihr derzeitiges Leben. Sie haben keinen Hunger, sie haben Spiele, es wird ihnen nicht langweilig - außer Ihnen, wie es scheint - und daher gibt es keinen Grund, irgendetwas zu hinterfragen. Und es gibt keinerlei Reize von außen, die einen Denkvorgang in Gang setzen könnten."
- "Aber es gibt doch Menschen, die arbeiten und die denken müssen. Ich habe schließlich auch gearbeitet."
"Ja, Sie haben gearbeitet. Es braucht ein paar intelligente Menschen, die gescheit genug zum Arbeiten sind, aber sonst nichts hinterfragen. Mit ihren statistischen Daten hätten Sie sich einige Fragen stellen müssen. Doch durch die Medien werden Sie kontinuierlich davon abgehalten."
Hartmut musste das zugeben, er tat es aber nur im Stillen und sagte nichts.
"Wollen Sie 1984 wirklich lesen? Sie würden nicht die Information erhalten, die sie suchen. Das Buch schildert nicht die Vergangenheit. Es schildert eine Zukunft, die damals als negativ empfunden wurde. Das herrschende Regime bestimmte über die Geschichtsschreibung. Alles was nicht zu seiner Unterstützung passte, wurde gelöscht oder umgeschrieben. Und die Sprache wurde auf einfache Konstrukte reduziert. Mehr werden Sie in dem Buch nicht finden. Aber das reicht schon. Denn die Geschichte mit der Geschichtsumschreibung hat stattgefunden. Mit dem Ergebnis, dass es überhaupt keine Geschichtsschreibung mehr gibt."
Hartmut fühlte, wie ihm der Boden unter den Sesselbeinen entschwand. Er hatte Angst zu fallen.
"Es gibt ein zweites Buch dieser Art, 'Schöne Neue Welt'. Aus diesem Buch kann man entnehmen, dass die Leute mit Drogen ruhig gestellt wurden. Auch dieses Detail gibt es in unserer realen Welt. Und in einem dritten Buch 'Fahrenheit 451' werden Bücher als Quelle allen Unheils gesehen und verbrannt. Der Unterschied zu heute ist, dass dieses Verbrennen nicht mehr öffentlich stattfindet. Die Bücher werden entsorgt, nachdem sie in Computer eingescannt wurden. Niemand befürchtete, dass der Inhalt der Bücher verloren gehen würde. Doch die eingescannten Bücher waren später nicht mehr zugreifbar."

Hartmut fragte: "Aber Sie sind doch jung, woher können Sie dann wissen, was war?"
Veronika erwiderte: "Sagt Ihnen der Name Goethe noch etwas." Hartmut erinnerte sich ganz dumpf, dass er den Namen schon einmal in seiner Kindheit gehört hatte. Sonst hatte er keine Assoziationen.
"'Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.' So beschreibt sich der Teufel selbst im Hauptwerk von Goethe. Wir waren einmal die Bösen. Wir mussten uns verstecken und tarnen. Das bedeutete, dass wir auch von allgemeinen Netzwerken isoliert waren. Nachdem wir selbst Viren erzeugten - das war vor 60 Jahren - wussten wir von der Gefahr einer Gegeninfiltration. Unsere Hauptcomputer waren nie an öffentlichen Netzen. Es gab Pannen. Einmal um 2045 hatte einer unserer Kollegen unvorsichtigerweise beim Auskundschaften eines Infoautomaten eine Sicherheitsvorkehrung außer acht gelassen. Er selbst und dreißig seiner Mitarbeiter, die in seinem Rechner mit Adressen existierten, verschwanden innerhalb von einem Monat. Seither wussten wir, wie gefährlich eine Interaktion mit dem System sein konnte."
Der Mann von vorhin kam in die Küche. Ganz ruhig meinte er: "Wir haben 28 Minuten Zeit, die Zelte zu räumen. Unsere Adresse ist aufgeflogen. Vermutlich wegen der heutigen Aktion. Ihr werdet den kürzesten Weg zu K1 nehmen. Wir anderen müssen noch zusammen packen."
Veronika packte Hartmut am Arm: "Kommen Sie, wir müssen schleunigst verschwinden." Sie zog eine weitere Perücke an, diesmal rötlich und eine Brille, wie sie gerade in den Innenstädten modern war.
"Wir müssen Sie auch noch verkleiden." Hartmut bekam einen Mantel und einen Bart angeklebt, der im Vergleich zu seinem eigenen wesentlich länger war, vor allem aber schwarz und nicht grau. Ein Hut verdeckte die Konturen seines Haaransatzes.
"Wir haben einen Vorteil und eine Chance. Das System setzt nie besonders effiziente Verfahren ein, wenn es um Alarmfälle geht. Wir sind jetzt ein Alarmfall. Wahrscheinlich kommen nur ein oder zwei Personen, mit Hochleistungskameras bewaffnet, welche die Identität der hier befindlichen Menschen erfassen wollen. Die eigentliche Exekution erfolgt später. Unser Hauptinteresse besteht also darin, unerkannt zu bleiben. Unsere Tarnung ist nicht besonders leistungsfähig, vor allem weil die Körpermaße und Bewegungsabläufe vermessen werden. Wir können hoffen, dass es für Sie noch keine Vergleichsmaße gibt. Ich gebe Ihnen einen Straßenplan. Die neue Adresse ist leicht zu finden. Sie müssen in spätestens 15 Minuten dort sein. Treffen Sie später ein, müssen wir davon ausgehen, dass Sie vom System als Spion eingesetzt werden. Alles klar?"
"Nein, was mache ich, wenn ich an der Adresse angelangt bin?" - "Das ist eine alte Schule. Das Haupttor ist offen. Anschließend gehen Sie in den Keller, nicht zu verfehlen. Wir sammeln Sie dann schon auf."
Hartmut fühlte sich plötzlich sehr unsicher. "Ich soll wirklich allein gehen?" - "Das ist die einzige Möglichkeit: Paare sind verdächtig, es sei denn sie fahren auf dem Rad. Aber Rad fahren werden Sie ja nicht wollen." Hartmut verneinte: "Und wie komme ich jetzt hier raus?" - "Kommen Sie. Sie gehen hier hoch und wenn Sie oben sind gehen Sie durch das Haus durch und beim Eingangstor können Sie das Gelände ohne Probleme verlassen." Sie zeigte auf eine langgezogene Treppe. Diese war ursprünglich einmal eine Materialrutsche gewesen, auf der Sauerkraut in eine im Keller befindliche Produktion angeliefert wurde.
Hartmut stiefelte hoch. Es war beschwerlich, die Treppe war doch ziemlich lang. Als er oben ankam, befand er sich in einem Innenhof. Er erkannte das Haupthaus an seiner grünen Farbe und betrat es durch die Hoftür. Als er auf die Barawitzkagasse trat, erinnerte er sich an den Stadtplan. Er wandte sich nach links und an der Kreuzung mit der Döblinger Hauptstrasse wieder nach links. An der Pyrkergasse musste er rechts einbiegen, die zweite linke Abzweigung war bereits die Kreindlgasse. Die Schule war deutlich sichtbar. Er hatte 12 Minuten gebraucht. Alles lief so wie vorherbesprochen. Als er auf der Kellerebene war, öffnete sich eine Tür und zog ihn in den Raum. "Das haben Sie ja brav geschafft. Passen Sie auf. Mit der weiteren Erklärung müssen wir ein bisschen warten. Wir müssen jetzt an ihrem Alibi basteln. Wir machen das so. Wir bringen Sie nach Heiligenstadt. Das wird ein bisschen aufwendig sein. Auf der U-Bahnstation setzen wir Sie auf eine Bank und Sie dürfen ein bisschen schlafen. Nur ein paar Minuten. Es ist eine bestimmte Bank, denn die Kamera mit der diese Bank überwacht wird, können wir beeinflussen. Es wird so aussehen, als hätten Sie zwei Stunden geschlafen. Dann fahren Sie mit der U-Bahn zurück zum Karlsplatz und gehen ins Hotel. Ich werde morgen wieder mit Ihnen Kontakt aufnehmen."
"Werden Sie nicht mit mir nach Heiligenstadt gehen?" - "Wo denken Sie hin. Das wäre viel zu auffällig? Nein, Sie werden sich ein bisschen klein machen müssen und sich in einer Maschine verstecken. Die Verkleidung können Sie wieder ablegen. Ab jetzt sind Sie wieder sie selbst. Kommen Sie!"
Sie führte ihn zu einem Hinterausgang der Schule. Dort stand eine große, gelbe Reinigungsmaschine, wie sie zum Säubern der Stadt benutzt wurden. Es gab einen Abfallbehälter, der ausreichte, einen zusammengeknautschten Hartmut aufzunehmen. "Die Route ist programmiert. Die Reinigungsleistung ist auf minimum gestellt. Ein bisschen Dreck wird zu Ihnen kommen, aber nicht viel. Wenn es drei mal summt, können Sie den Behälter aufdrücken und aussteigen. Sie werden bei einer Fluchtstiege ankommen, die sie hinaufgehen können. Dann setzen Sie sich auf die zweite Wartebank und machen einen schlafenden Eindruck. Mit der nächsten oder besser der übernächsten U-Bahn fahren Sie dann zurück. Geben Sie vor, versehentlich eingeschlafen zu sein. Falls Sie von einem Bekannten gefragt werden, was Sie gemacht haben, vermeiden Sie jeden Hinweis auf Spaziergang oder B1. Natürlich auch nicht K1.
Tja, Sie sind jetzt mitgehangen, mitgefangen. Ich hoffe, Sie lieben Abenteuer. Ihr Leben wird fortan etwas 'interessanter' sein." Sie sprach das 'interessanter' mit einem leicht spöttischen Unterton.
Hartmut kletterte hinein. Die Maschine machte sich auf den Weg. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie stehen blieb und drei Summtöne hörbar wurden. Hartmut, der bisher noch nicht gewusst hatte, was Klaustrophobie war, war heilfroh, endlich seinem Verschlag entkommen zu können. Er wartete am unteren Ende der Treppe, weil er noch sehen wollte, wie die Maschine weiterfuhr. Danach stieg er hoch und setzte sich auf die Bank. Er war wirklich etwas müde. Er traute sich kaum, die Augen zuzumachen, weil er befürchtete, dann zu lange zu schlafen. Er war sehr froh, als endlich die zweite U-Bahn kam. Er rieb sich die Augen und hastete zu den Waggons. In der U-Bahn fühlte er sich sicher. Er gehörte wieder zum System.
Das Gefühl der Sicherheit war wärmend. Doch umso abrupter war sein Ende, als er in seinem Hotelzimmer auf dem Bildschirm einen Anruf empfing. Das Bild zeigte Peter. "Schönen Tag gehabt? Was hast Du gesehen?" - "Nicht viel. Vormittags war ich im Museum und nach dem Mittagessen fuhr ich nach Heiligenstadt." - "Aha, Du wolltest wohl die Barawitzkagasse aufsuchen." - "Hätte ich vielleicht gemacht, doch plötzlich war ich so müde, dass ich mich hingesetzt habe. Ich muss wohl zwei Stunden auf der Bank geschlafen haben. Danach war meine Initiative auf null und ich bin zurück ins Hotel gefahren. Das waren ziemlich leere Kilometer." Auf dem Gesicht von Peter zeigte sich fast unmerklich eine leichte Enttäuschung. "Du warst nicht dort?" - "Wo meinst Du?" - "Barawitzkagasse 10" - "Nein, aber wenn Du so fragst, dann weißt Du vielleicht, was ich dort vorgefunden hätte." - "Darf ich dir nicht sagen. Hast Du nicht den Hinweis gelesen, dass es sich um 'klassifizierte Information' handelt?" - "Doch, aber damit konnte und kann ich nichts anfangen." - "Das ist gut so. Du solltest damit überhaupt nichts zu tun haben. Obwohl ... " Peter lächelte etwas säuerlich. "In deinem Beruf hattest Du nur mit klassifizierter Information zu tun." - "Aha, soll sein. Mir bedeutet der Ausdruck trotzdem nichts." - "Nun ist ja gut, viel Spass noch morgen! Guten Abend, ciao."
Hartmuts Puls und Blutdruck waren gestiegen.
Was er heute nachmittag gehört hatte, war schon beunruhigend genut, aber dass Peter so genau Bescheid wusste, setzte eine Überlegungen in Bewegung. Peter, 'sein Freund', war offensichtlich Teil des Systems. Ein System, welches alles fast lückenlos überwachte. Peter wusste über die Barawitzkagasse Bescheid. Hatte er den Alarm ausgelöst. Konnte Peter ein so umfassendes Wissen über seine Person und seine Aktivitäten haben? Er entnahm der Minibar noch eine Flasche Wein und trank sie leer um daraufhin in einen unruhigen Schlaf zu verfallen.
Als er in der Früh aufwachte und sich anzog, entdeckte er einen Zettel in seiner Hosentasche. "Gusshausstrasse 25, 11:00. Verwenden Sie keinen Infoautomaten. Sagen Sie dem Kellner, dass Sie vorhaben, ein bisschen die nähere Umgebung zu erkunden. Vernichten Sie diesen Zettel. Wenn Ihnen der Kellner einen Navigator aufdrängt, nehmen Sie in dankend an aber 'vergessen' Sie ihn in ihrem Zimmer." Er verspürte etwas wie Freude und überraschte Neugier, aber auch ein bisschen Zufriedenheit. Es würde weitergehen.
Beim Frühstück drängte ihm der Kellner den Navigator auf. Hartmut wollte ihn nicht annehmen, doch dann erinnerte er sich an die Anweisung. Er sah den Ausdruck von Erleichterung in den Augen des Kellners, als er den Navigator einsteckte.
Um halb elf machte er sich auf den Weg. Er spazierte an der Karlskirche vorbei, verbrachte dort aber fünf Minuten, um den Eindrück des Touristen zu vermitteln, dann schlenderte er in der Karlsgasse weiter. Kurz bevor er die Gusshausstrasse erreichte, kam ihm ein junges Mädchen in Leggins und einem T-Shirt mit der Aufschrift 'Citizen of Vienna' entgegen. Als er an ihr vorbei ging, packte sie ihn an Arm und drückte ihn gegen die Hauswand. "Einen Moment!" Sie zog einen Schlüssel hervor und öffnete die Eingangstür zu einem ehemaligen Gasthaus. "So da hinein!" Sie verschloss die Tür von innen und drängte ihn, zum hinteren Gastraum weiter zu gehen. Als er sich niedersetzte und sie genauer ansah, konnte er seinen Augen nicht trauen. Das war Veronika, sichtlich mindestens 12 Jahre jünger. Vielleicht die Schwester. Das Mädchen schmunzelte. "Ich bin es schon selber!" Sie lachte ihn aus. "Also verlieren wir keine Zeit. Wir haben hier ungefähr eine Stunde Zeit. Also besser ist es, wenn wir vor 45 Minuten hier abhauen."
Hartmuts Gesicht war das der reinen Verblüffung.
"Okay. Machen wir weiter. Wie gesagt, wir waren die Bösen. Was wir heute sind, ist nicht so leicht zu sagen. Wir planen keine Terrorakte. Wir wollen nicht das System angreifen. Wir wollen uns nur außerhalb des Systems bewegen können. Unüberwacht. Und wir wollen die Geschichte des Menschen bewahren. Um das zu tun, müssen wir uns der allgemeinen Überwachung entziehen. Und das ist verdammt schwierig geworden."
Hartmut nickte.
"Überwachung hat es schon immer gegeben, doch schien es in der Vergangenheit nicht möglich, die Vielzahl der Daten entsprechend auszuwerten. Das hat sich geändert. Irgendjemand verfügt über derart leistungsstarke Computer, dass die Verbindung von scheinbar unzusammen hängenden Daten sichtbar wird."
Veronika dachte etwas nach. "Zwischen den Daten und einer vernünftigen Auswertung gab es immer eine Verzögerung. Diese Verzögerung ist aber so kurz geworden, dass es den Anschein hat, dass die Auswertung sofort existiert. Und es könnte sein, dass Sie uns dabei helfen können, hier etwas Licht in die Sache zu bringen. Es geht um Statistik und Vorhersagen. Es scheint uns nämlich, dass das System bereits im Vorhinein weiß, wo es besondere Überwachungen anbringt."
"Und was könnte ich dabei helfen?"
"Sie könnten eine Antistatistik entwickeln! Sie müssten eine Anordnung entwickeln, welche Daten so in das System einschleust, dass normale statistische Auswertungen nicht mehr zutreffen. Wir wissen, dass es gehen müsste, aber wir kommen nicht an Wissenschaftler heran, die es könnten. Sie sind ein Glückstreffer für uns, wenn Sie sich entscheiden, uns zu helfen."
"Aber das geht doch nicht, ich habe keine Rechner mehr und ich kann nicht dauern in Alt-Wien bleiben."
"Das lassen Sie unsere Sorge sein. Es ist sehr schwierig, eine Kommunikationslinie zu Ihnen und Ihrem Haus aufzubauen. Aber wir werden das schaffen. Halten Sie aber dicht gegenüber Peter und Ihrer Frau, von der wir nicht wissen, wie wir sie einzuschätzen haben. Werden Sie uns helfen?"
Hartmut nickte. Mitgehangen, mitgefangen. Es war seine Neugier gewesen, die in nach Alt-Wien gebracht hatte. Zumindest wusste er jetzt, dass 'etwas nicht stimmte'. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen.
"Wie werde ich es merken, wenn Sie Verbindung mit mir aufnehmen?"
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14
Mai
2014

aus 2041/16

Eine Erklärung wird angekündigt.

"Ich kenne das Buch gar nicht. Mich hat nur die Zahl fasziniert. Es ist ja offensichtlich eine Jahreszahl. Vor hundert Jahren. Das interessiert mich."
Veronika schaute ihn prüfend an. "Und warum interessieren Sie sich für eine derartige Jahreszahl?"
"Ich bin auf der Suche nach historischen Daten. Ich habe festgestellt, dass es kaum Material über die Zeit vor 2040 gibt. Eigentlich gibt es gar nichts. Jetzt habe ich einen Tipp bekommen, dass ich vielleicht in einem Museum fündig werden könnte. Aber offensichtlich gibt es da auch nichts. Zumindest nicht dort, wo ich war."
- "Und haben Sie eine Erklärung oder Vermutung, warum das so ist?"
Hartmut nickte nachdenklich. "Ich habe eben keine. Ich bin ganz am Anfang meiner Suche."
In der Zwischenzeit waren die beiden an der Kreuzung Heiligenstädterstrasse Barawitzkagasse angelangt. "Ich nehme an, Sie wollen zur Nummer 10." warf Veronika ein.
Hartmut war über das Wundern hinaus. "Ja, Sie haben offensichtlich Erfahrung damit, was passiert, wenn man 1984 anklickt."
Veronika ging auf die Bemerkung nicht ein. Unvermutet fragte sie plötzlich: "Was haben Sie den für eine Einstufung?" Hartmut antwortete, dass er nicht wisse was sie meine. Das schien Veronika nicht zu überraschen. "Nun, Sie müssen mindestens 2 wenn nicht 3 haben, wenn man Ihnen eine Besuch in Alt-Wien erlaubt. Sind Sie sich eigentlich bewusst, welche Privilegien Sie haben?"
"Nun, es geht mir gut, ich habe keine Sorgen, ich hatte sogar Arbeit. Jetzt bin ich in Pension."
"Wenn es das Buch noch zu lesen gäbe und Sie es gelesen hätten, wären Sie all ihrer Privilegien verlustig gegangen. Haben Sie den Hinweis auf klassifizierte Information nicht gelesen? Beim vierten Versuch, das Buch zu öffnen, hätte man Sie herabgestuft. Sie wären neugierig gewesen und hätten weiter geforscht und schlussendlich wären Sie auf Stufe 0 gelandet. Sie würden ihr Haus verlieren und in eine Innenstadt ziehen müssen."
Sie waren vor dem Haus Nr. 10 angelangt. Die Fassade des Hauses wies eine stark angedunkelte grüne Farbe auf. Es gab eine Klingelanlage, doch Veronika hielt eine Marke an das Schloß und Sie betraten das Stiegenhaus. Allerdings gab es nur wenige Stufen in ein Parterre, danach ging es wieder hinunter in den Keller, der einzelne Abteile für die Mieter aufwies. Es gab eine Türe, die sich von den anderen unterschied. Sie war fast nicht im Dunklen zu erkennen. Wieder hielt Veronika ihre Marke an die Tür und sie öffnete sich nach einer gewissen Wartezeit. Als die Türe offen stand, konnte Hartmut erkennen, dass es sich um eine Sicherheitstüre mit mehreren mechanischen Verriegelungen handelte.
Es gab nur eine spärliche Beleuchtung, die im wesentlichen von ein paar Bildschirmen herrührte. Ein Mann kam auf sie zu und begrüßte Veronika mit einem Vorwurf: "Bist Du wahnsinnig, den Typen hierher zu bringen."
Veronika antwortete: "Natürlich bin ich wahnsinnig wie wir alle hier. Aber habe ich mich je in meiner Menscheneinschätzung getäuscht?" Es gab ein abfälliges Grunzen. "Nun, jetzt ist er hier, was machen wir mit ihm?"
"Wir müssen für ihn eine Identität basteln. Eine, welche sein Interesse für 1984 zufällig erscheinen lässt. Es war ja wirklich zufällig, aber seine Nachfrage bedeutet ein Risiko für uns. Wir sollten unseren Stub entfernen."
"Ist schon passiert. Nachdem er noch zweimal versucht hat, nach zu fassen, wird 1984 sicher untersucht werden. Hoffentlich gibt es keine Spuren mehr von uns."
"Und die Logs? Hast Du die auch manipulieren können?" - Zumindest gibt es keine Hinweise mehr auf "Barawitzkagasse. Alles andere ist nicht relevant. Man weiß, dass es uns gibt, aber man duldet uns, solange wir nicht an die Öffentlichkeit treten. Soweit ist alles in Ordnung. Nur dein 'Bekannter' ist noch ein gewisses Risiko."
Hartmut hörte mit steigender Verwunderung zu. Was er zu verstehen glaubte, war eine Beeinflussung des Computersystems durch den Typen hier im Keller. Er hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Seit 2040 gab es keine Hinweise mehr auf Viren, Trojaner oder andere Schadsoftware. Selbst mit dem Begriff Trojaner hätte Hartmut nichts anfangen können.
"Trinken wir einmal einen Tee und ich werde Hartmut aufklären."
Im nächsten Raum, der Küche und Essecke in einem war, wurde Tee gekocht. "Wir sind keine guten Gastgeber, denn wir scheuen jeden Kontakt mit den herkömmlichen Einrichtungen, es sei denn es ist notwendig wie z.B. heute." Sie nahm ihre Perücke und die Brille ab. Plötzlich war sie zu einer sehr gut aussehenden Blondine verwandelt, obwohl sie von ihrer Ausstrahlung her selbst keine Notiz zu nehmen schien.
"Also Hartmut, sag uns, was der eigentliche Auslöser für deinen Besuch in Alt-Wien ist."
Was sollte er sagen. Er erinnerte sich an sein Gespräch mit Peter. "Es geht uns sehr gut, aber irgendetwas stimmt nicht."
Er sagte es halblaut, so wie er es sich in Erinnerung rief.
"Und was stimmt nicht?" - "Es läuft zu gut! Ich habe das Gefühl, dass es nicht immer so war, aber ich kann das Gefühl nirgendwo festmachen."
"Sie haben ein gutes Gefühl. Sie haben recht, etwas stimmt nicht. Aber Sie haben keine Ahnung, was nicht stimmt."
Veronika holte tief Atem. "Was ich Ihnen jetzt sagen werde, wird Sie beunruhigen. Es muss Sie beunruhigen. Denn Ihr Leben ist in Gefahr."
Hartmut nahm das vorab mit Gleichmut hin. Er erinnerte sich an das, was Valerie ihm gesagt hatte. "Ich bin alt genug und muss mir kein Blatt mehr vor den Mund nehmen."
Sollte das für ihn ebenfalls bereits gelten?
Veronika stellte eine direkte Frage: "Wer kontrolliert Ihrer Meinung nach das, was auf der Welt geschieht? Global?"
Hartmut war versucht zu sagen: "Die Politiker".
Er überraschte sich allerdings selbst mit der Erkenntnis, dass das nicht stimmen könnte. Er korrigierte seine unmittelbare Reaktion auf "Ich nehme an, die Politiker, aber ich weiß nicht, wer die kontrolliert."
Veronika nickte zustimmend.
"Richtig! Wer kontrolliert die Politiker? - Nun nehmen wir einmal an, dass es da eine Kontrollinstanz gibt. Die operiert ja gar nicht so schlecht. Viele Probleme, welche die Menschen früher hatten, gibt es nicht mehr."
Hartmut nickte.
"Es gibt auch kein Verbrechen mehr. Ist Ihnen aufgefallen, dass manche Menschen einfach von der Bildfläche verschwinden?" Hartmut nickte.
"Sie sind in Gefahr, dass das mit Ihnen auch passiert. Es passiert mit all denen, die vermuten, dass es ein System gibt, ein System hinter den Politikern. Es gibt keine Prozesse. Es gibt keine Rechtsprechung. Der reine Verdacht reicht aus, um jemanden als Gefahr für das System einzustufen und ihn zu eliminieren."
Hartmut zögerte, es war schwer das so einfach zu verdauen.
"Gibt es jemanden in Ihrer Umgebung, der scheinbar mehr zu wissen scheint?" Hartmut verneinte, obwohl er langsam unsicher wurde. Peter, der da plötzlich im Infoautomaten aufgetaucht war, konnte schon so jemand sein.
"Trinken Sie Ihren Tee. Dann gebe ich Ihnen ein ungefähres Bild von der Situation. Bis jetzt hat Sie ihre Naivität geschützt, aber nun wird es besser sein, wenn Sie sich der Gefahren bewusst sind."
Hartmut rätselte: was konnte jenes System sein, das als so gefährlich geschildert wurde.
Veronika fing an zu erklären.
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Go und künstliche Intelligenz

Einen interessanten Artikel finde ich heute im Standard: das letzte Spiel, in dem Mensch über Computer triumphiert

Eigentlich habe ich Go ja immer als das Beispiel angeführt, welches noch nicht in ausreichender Stärke programmiert wrden kann. Wenn ich aber heute diesen Titel lese und darin eine etwas verächtliches Aussage über künstliche Intelligenz angeführt wird, bringt mich das zum Nachdenken. Es gibt nämlich kaum ein besseres Beispiel für menschliche Überheblichkeit, die letztlich zur Dummheit führt. Ausnahmsweise gebe ich nicht dem Journalisten die Schuld. Denn wenn er selbst nicht Go spielt, wird er nicht in der Lage sein, den Fehler in seiner Aussage zu erkennen.
Es ist wahr, zumindest der Überlieferung nach, dass Go ein Kampfspiel ist, das angeblich einmal auf Leben und Tod gespielt wurde. Das Gobrett oder besser der Gotisch war mit Vertiefungen angelegt, damit der Besiegte sein Haupt neigen konnte, welches ihm dann mit dem Schwert abgeschlagen wurde. In den Rinnen floss das Blut ab. Ob diese Überlieferung stimmt, kann ich nicht bezeugen. Heute wird jedenfalls nicht mehr so gespielt. Der Ausdruck triumphieren wird beim guten Gospieler nicht mehr gebraucht. Beim Gospiel wird ein Stärkenunterschied durch eine Vorgabe ausgeglichen. Selbst wenn die Gegner gleich stark sind, bekommt der Nachziehende ein Komi von 4,5 oder 5,5 manchmal 6 Punkten, die ihm vorteilhaft beim Endergebnis zugerechnet werden, damit der Vorteil des Anziehenden kompensiert wird.
Es gibt also schon einen Gewinner und einen Verlierer, allerdings wird bei guten Gospielern allein die Schönheit der Partie eine Rolle spielen. Gute Spieler wissen fast immer um das laufende Spielresultat Bescheid. Sie "zählen". Bei Freundschaftspartien wird nicht abgerechnet. Nur bei Turnierpartien spielen die Siege eine Rolle, weil sie letztlich über die Einstufung der Spielstärke entscheiden.
Ich habe eine Vermutung, warum sich Go zur Zeit noch nicht ausreichend stark programmieren lässt. Es gibt nämlich keinen "besten" Zug. Der beste Zug ist vom Spieler selbst abhängig. Er ist der Zug, den der Spieler in der Fortsetzung auch verteidigen kann. Spielt er zu "klein", wird er nicht genügend Punkte beanspruchen, spielt er zu "gross" für seine Spielstärke, wird ihn der Gegner so angreifen können, dass kein Gebietsanspruch übrig bleibt. Wie soll nun ein Programm entscheiden, wie stark das Programm selbst spielen kann? Die Folgezüge nach einem frechen Zug müssen oft auf 20 Züge vorausberechnet werden. Der Mensch kann sich das oft durch bestimmte Mustererkennung abkürzen. Doch die Kunst des guten Spiels besteht daran, einen Zug, der in einer Ecke gesetzt wird, nicht nur in bezug auf die Ecke sondern auch in bezug auf das ganze Brett zu bewerten. Der Anfänger im Spiel lernt das nur mühsam.
Das sehr gute Go vermisst also zwei wesentliche Aspekte des Spiels: eine punktuelle Gewinnstrategie und eine Bewertbarkeit der eigenen Züge. Die Bewertbarkeit der gegnerischen Züge ist nicht das Problem, denn hier muss immer nur die statische Situation nach dem Zug bewertet werden. Beim eigenen Zug muss man allerdings genau wissen, wie die Fortsetzung aussehen kann. Bei einem gegnerischen Angriff gibt es ebenfalls keine dem Schach entsprechende Verteidigung. Man kann einen Angriff ohne weiteres ignorieren, wenn ein unscheinbar wirkender Zug in einer anderen Region des Bretts mehr Punkte verspricht.
Es ist also kein Wunder, wenn die heutige "künstliche Intelligenz" nicht ausreicht. Sie wird in der Regel von Menschen zu programmieren versucht, die von einer "besten zutreffenden Lösung" ausgehen und diese berechnen wollen.
Ich bin aber sicher, dass es jemanden geben wird, der Go mit einer anderen Strategie in der Spielstärke verbessern will und irgendwann einmal das Ziel erreichen wird. Dann werden aber auch die Computer allgemein eine sprunghafte Leistungsverbesserung erreicht haben.

Anmerkung: ich habe da Go-Spiel im Alter von 22 Jahren aufgegeben. Frauen waren mir wichtiger. Ich habe die interessante Erfahrung gemacht, dass man auch von einem Spieler lernen kann, der schlechter als man selber spielt. Bis zum 20. Lebensjahr hatte ich nur mit meinem Vater gespielt, der ein 6. Kyu war. Als ich einem Club beitrat, wurde ich als 3. Kyu eingestuft und verbesserte mich bis zum 1. Kyu. In der Folge habe ich wenig gespielt, nahm es aber im Zuge meiner japanischen Geschäftstätigkeit wieder auf. Die Japaner freuten sich, wenn sie in der Mittagspause mit mir spielten. Damals war ich ungefähr ein 1. Dan, was durchaus ein Achtungserfolg war. Ein einziges Mal, ich weiß nicht, wie das vor sich ging, gewann ich auch gegen einen 4. Dan ohne Vorgabe. Heute spiele ich nicht mehr. Man sagt aber, dass man beim Go keine Spielstärke verliert. Das ist beim Schach sehr wohl der Fall. Vielleicht zeigt dies auch den grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Spielen auf.
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13
Mai
2014

aus 2041 / 15

Nach einer etwas längeren Pause geht es weiter. Hoffentlich haben sich nicht alle Leser verschlurfelt:)

Auf dem Bildschirm erschien eine weitere Meldung: "Verwenden Sie Ausstellungsstück 334!" Nach zwei Sekunden verschwand die Meldung und der Infoautomat zeigte den gewohnten Anfangsbildschirm. Hartmut versuchte es erneut. Die Auskunft über die klassifizierte Information erschien erneut und verschwand ohne weiteren Hinweis. Das Gleiche passierte beim dritten Versuch.
Jetzt wurde Hartmut neugierig. Etwas Misstrauen wäre angebracht gewesen, doch Hartmut war schon so alt, dass er sich erinnern konnte, dass Computer nicht immer beim ersten Mal erwartungsgemäß reagierten. Er wusste nicht, dass bei einer neuerlichen Wiederholung seine Einstufung verschlechtert worden wäre.
Er schaute sich um und versuchte das Ausstellungsstück 334 ausfindig zu machen. Nicht alle Exhibitionate waren nummeriert, doch bei einigen fand er kleine Inventaraufkleber. Allerdings waren die Zahlen alle zweistellig.

Er schlenderte weiter. Im übernächsten Raum gab es die Darstellung eines früheren Büroraums. Ein wunderschöner Holzschreibtisch mit einer Lederauflage. Es gab einen Adressenkarteikasten, mit Karten, auf denen Adressen handschriftlich vermerkt waren. Das Telefon hatte eine Drehwählscheibe. Eine der Schubladen des Schreibtisches stand halb offen. Hartmut entdeckte darin einen Anachronismus, hier lag ein Mobiltelefon, das es erst frühestens 50 Jahre später hätte geben können. Jetzt entdeckte Hartmut einen Inventarzettel auf dem Schreibtisch. Der trug die Nummer 334. Hartmut versuchte, die anderen Laden zu öffnen. In der untersten Lade auf der rechten Seite fand er ein Buch. Er las George Orwell. Er nahm es heraus und öffnete es. Die Seiten waren alle bis auf die erste Seite weiß. Auf der ersten Seite stand: "Bei echtem Interesse wählen Sie am Infoautomat die Adresse Barawitzkagasse 10. Bleiben Sie nicht zu lange in diesem Raum. Legen Sie das Buch zurück und schließen Sie die Lade!"
Hartmut befolgte die Anweisungen. Das schien ja richtig interessant zu werden. Vielleicht war es ein Spiel. Hartmut hatte selber nie Computerspiele verwendet. Doch er konnte sich aus Erzählungen von anderen Leuten vorstellen, dass manche Spiele so ablaufen könnten.

Er blieb noch eine Stunde im Museum. Alles andere funktionierte so, wie es in Museen üblich war. Er versuchte andere Bücher zu öffnen und fand dabei keine Hindernisse vor. Vor allem aber fand er nichts, was irgendwie Aufschluss über historische Ereignisse der Vergangenheit, speziell in Hinblick auf politische Geschehnisse geben konnte. Etwas enttäuscht verließ er das Museum. Was hatte der Eisenbahner ihm als Restaurant empfohlen? Nein, es war nicht der Eisenbahner. Peter hatte ihm das Hotel Sacher empfohlen. Er versuchte einen Infoautomaten. Der angezeigte Stadtplan zeigte ihm die Route und eine vermutliche Gehdauer von fünfzehn Minuten an. Er hatte zwar nicht sehr viel Appetit, da aber sein Informationshunger nicht gestillt war, wollte er wenigstens etwas essen. Und vielleicht war es sinnvoll, ein Zimmer zu reservieren. Das könnte er gleich dort tun. Der Infoautomat hatte keinen Knopf mit Hotelreservierung. Hartmut hätte sich erst durch Menüs durchsuchen müssen und wäre schlußendlich erfolglos geblieben. Es gab keine Hotelreservierungen von unterwegs. Nur zuhause konnte man sich ein Hotel reservieren lassen und damit gab es dann auch sämtliche Angaben der Beförderungswege.
Hartmut kam sich in der großen Stadt wie in einer Wildnis vor. Zwar war alles aufgeräumt und sauber. Doch ohne Menschen kam er sich wie in unendlicher Einsamkeit vor. Hartmut hatte keine Ahnung, wie leer die Stadt war, denn es gab auch keine abgestellten Autos oder andere Fahrzeuge. Als er über den Ring der Opernkreuzung zusteuerte, sah er noch einmal einige Radfahrer, deren Verhalten das der früheren wiederspiegelte. Es gab keinen Augenkontakt und ihr Verhalten ähnelte einer Flucht, um ja jeden Kontakt zu vermeiden.
Im Hotel sah Hartmut einige Menschen. Die meisten traten als Paare auf und saßen bei Tisch. Es gab einen menschlichen Kellner, zumindest sah er nicht wie ein Automat aus. Hartmut steuerte einen Tisch an, auf dem bereits eine Speisekarte lag. Das Besondere an der Speisekarte war die Ausführung als ganz flacher Bildschirm. Auf ihm stand die Anweisung: "Bitte legen Sie ihre Hand auf die Karte." Als Hartmut seine Hand auf der Karte plazierte, wechselte der Schirm seine Farbe um anschließend ein "danke" zu produzieren. Als nächstes erschien: "Ihre gesundheitlichen Werte sind in Ordnung, wir freuen uns, Ihnen unsere Standardgerichte anbieten zu können. Bitte wählen Sie aus. Hartmut wusste nicht, dass die Gerichte recht typische Standardgerichte der Alt-Wiener Gastronomie waren. Wiener Schnitzel erschien ihm als wählenswert. Als er es anklickte, kam die Meldung: "Vielen Dank für ihre Bestellung. Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass alle unsere Fleischgerichte streng vegetarisch sind. Doch Sie werden geschmacklich keinen Unterschied merken. Wir empfehlen Ihnen ein Glas Weißwein, vorzugsweise 'Grüner Veltliner'. Sind Sie einverstanden.?" Hartmut berührte das Feld mit "JA", worauf sich das Menü abschaltete und nur mehr der Vermerk sichtbar war: "Es wird Ihnen in 20 Minuten serviert werden."
Hartmut fand den Hinweis mit dem Geschmackshinweis schon etwas lächerlich. Er hätte ja gar keinen Vergleich gehabt, wie es hätte schmecken sollen.
Der Kellner kam an seinen Tisch und brachte Wein und ein großes Glas Wasser. Er fragte Hartmut: "Wollen Sie auch gleich ein Zimmer reservieren? Wenn ich richtig informiert bin, wollen Sie zwei Nächte bleiben." Woher wusste er das? War er vielleicht doch ein Roboter, ein besonders sorgfältig nachgebildeter. Hartmut nickte und blickte dem Kellner nach. Der humpelte ein bisschen, was Hartmut jetzt erst auffiel. Humpelnde Roboter gibt es doch wohl nicht. Doch irgendwer musste wissen, dass er jetzt da war und musste dem Kellner die Information zugespielt haben.
Jetzt erinnerte sich Hartmut an den letzten Kontakt mit Peter am Infoautomat. Er hatte ihm ja das Hotel empfohlen. Wahrscheinlich hatte Peter bereits die Information mit Hartmuts Bild an das Hotel übermittelt. Das war eine plausible Erklärung.
Verstohlen schaute Hartmut um sich. Was waren das für Menschen rund um ihn, die teilweise bereits aßen oder auf ihr Essen warteten. Die meisten Pärchen waren sehr jung - mit ihm verglichen. Sie wirkten alle wie wirkliche Touristen auf der Suche nach dem Besonderen. Es gab eine weitere Einzelperson, die so wie sein Begleiter im Zug wirkte. Ein Edel-Arbeiter. Ein neuer Gast betrat das Sacher und schwenkte in den Restaurantbereich. Eine junge Frau um die dreißig, unauffällig in einem grauen Kostüm, gepflegt wirkend, schaute sich suchend um und wählte, als sie Hartmut sah, einen Tisch in seiner Nähe.

Hartmut schmunzelte. Er überlegte sich die Situation. Diese bot sich gerade zu einem Gesprächsversuch an. Doch Hartmut war mit seiner Frau sehr glücklich. Er konnte keine erotische Anziehungskraft verspüren. Es war aber nicht üblich, mit wildfremden Personen ein Gespräch anzufangen, obwohl er das früher sehr gerne gemacht hatte. Die Frau schien diesbezüglich keine Hemmungen zu haben. "Würde es Sie stören, wenn ich mich zu Ihnen setze. Zu zweit isst es sich doch viel netter?" Hartmut nickte etwas verhalten. Gerade konnte er ein "Guten Tag" hervorbringen. Die Frau lächelte und wechselte den Tisch.
Hartmut grübelte, ob er es wohl mit einem Escort-Service zu tun hatte. Angesichts der merkwürdigen Zufälle, die alle darauf hindeuteten, dass man über jeden seiner Schritte bescheid wusste, konnte er jetzt glauben, dass man vielleicht auch interessiert daran wäre, was er nachts so anstellte.
Es fiel ihm nichts Besseres ein, als "Wo leben Sie denn?" zu fragen. Die Frau lächtelte spöttisch und meinte: "Ich lebe hier in Wien." Hartmut fiel aus allen Wolken. Er hatte nicht geglaubt, dass in den Alt-Städten auch Menschen dauerhaft leben würden. Davon war in allen Informationen, die er bisher erhalten hatte, nicht die Rede. Er verschluckte sich an seinem Wasser, dass er gerade zum Trinken angesetzt hatte. "Sie leben hier, hier in Alt-Wien? Dauernd?" - "Ja, ist das so besonders?" - "Ich weiß nicht. Es hieß, dass die Alt-Städte lediglich als große Museen dienten. Sehen Sie, ich bin nicht von hier. Aber ich habe ja auch sonst kaum Menschen gesehen. Wie viele Leute leben denn in dieser Stadt?" Die Frau nickte dem Kellner zu, der gerade gekommen war. "Bringen Sie mir dasselbe wie dem Herrn. Und zum gleichen Zeitpunkt" Hartmut sah, dass seine Warteanzeige gerade von 12 Minuten auf 20 Minuten gesprungen war. Die Frau warf Hartmut einen prüfenden Blick zu. "Warum interessiert Sie das. Ich verstehe, dass Sie überrascht sind. Aber warum wollen Sie die Einwohnerzahl wissen?" Hartmut entspannte sich etwas. "Sehen Sie, ich war von Beruf Statistiker. Es muss wohl ein Reflex sein, dass ich mich immer nach Zahlen erkundige. Aber ich dachte, dass es nur die Dienste für die Touristen und Gäste gibt. Wenn hier Menschen wohnen, muss es ja auch Geschäfte für sie geben. Ich habe aber keines gesehen."
"Es gibt schon Geschäfte, aber nicht hier in der Innenstadt. Sie müssen in die Außenbezirke kommen. Dort wo ich lebe. Da finden Sie dann auch Geschäfte." - "Sie kennen sich in der Stadt aber wohl gut aus. Darf ich Sie nach einer Adresse fragen?" Hartmut war ganz stolz auf sich. Es war doch sicher besser eine Person in der Stadt nach der Adresse zu fragen, als dem Infoautomaten wieder neues Futter für seine Überwachung zu geben. "Fragen Sie nur!" - "Können Sie mir sagen, wo die Barawitzkagasse liegt?" - "Ja, die befindet sich in einem Außenbezirk. Sie können Sie sogar leicht mit U-Bahn, Linie 4 erreichen. Von der Endstation sind es nur 10 Minuten zu Fuss."
Es trat eine zeitlang Stille ein. Hartmut überlegte, ob es Zufall war, dass sie die Adresse so genau kannte. Für sie war die Angelegenheit, wegen der sie auch gekommen war, klar. Hartmut war derjenige, der im Museum nach 1984 gesucht hatte.
Das Essen kam auf den Tisch. Hartmut war recht verblüfft, wie gut es schmeckte. Die Frau lächelte: "Es schmeckt Ihnen. Ich kann es mir vorstellen. Auch wenn das Fleisch nicht echt ist, die Eier für die Panier sind es. Die sind nicht synthetisch hergestellt. Und den Erdäpfelsalat werden Sie zuhause vermutlich auch nicht in der gleichen Qualität erhalten. Es ist eine besondere Sorte von Erdäpfeln, die nur in einem Bezirk von Alt-Wien angebaut wird. Dort, wo übrigens auch der Wein her ist?"
Hartmut seufzte: "Es wäre nett, wenn ich Sie als Fremdenführerin engagieren könnte. Sie kennen sich vermutlich besser aus als jeder Infoautomat, den ich fragen müsste." - "Das stimmt. Wenn Sie den fragen, warum das Essen so gut schmeckt, wird er Ihnen nur sagen, dass das Essen den höchsten Qualitätsansprüchen genügt und deswegen so gut schmeckt." Sie setzte fort: "Ich kann Ihnen aber ein Angebot machen. Wenn Sie zu Ihre Adresse wollen, dann kann ich Sie begleiten. Ich muss auch zu einem Ort ganz in der Nähe." Sie vermied es, die Adresse noch einmal beim Namen zu nennen.
Hartmut strahlte. Der Tag zeigte sich langsam von seiner besseren Seite. "Mein Name ist Hartmut, wenn ich mich vorstellen darf." - "Gerne. Sie können mich Vroni nennen. Von Veronika. Aber das ist zu lang."
Hartmut winkte dem Kellner. "Dir Rechnung bitte, auch die der Dame." Der Kellner winkte ab. Wurde bereits von Ihrem Konto abgebucht. "Auch die von der Dame? Woher wissen Sie das im Vorhinein?" Der Kellner antwortete: "Es ist üblich, dass nur pro Tisch abgerechnet wird. Sie müssten vorher getrennte Rechnung beantragen."
Hartmut und Veronika verließen das Sacher und schlenderten an der Staatsoper in Richtung Karlsplatz. Dort war der Eingang zur Linie 4. Veronika wies ihn darauf hin, dass sie bis zur Endstation Heiligenstadt fahren müßten.
Als sie dort ausstiegen und sich in Richtung Barawitzkagasse auf den Weg machten, konnte Hartmut sehen, dass vergleichsweise mehr Personen auf den Strassen waren. Er machte Veronika darauf aufmerksam und fragte sie, warum die Leute alle so scheu waren.
"Nun, es ist eine gute Praxis, nicht zu neugierig zu sein. Eine weitere ist es, nicht aufzufallen. Es dauert sehr lange, bis sich die Menschen hier einem anderen anvertrauen."
Hartmut überlegte ein bisschen, dann fragte er: "Aber wie ist das mit Ihnen? Sie haben sich ja von sich heraus im Sacher zu mir gesetzt. Das würde dann ja überhaupt nicht dem Standardbenehmen entsprechen."
-
Veronika antwortete langsam: "Wenn Sie sich für 1984 interessieren, dann interessiere ich mich für Sie. Warum wollten Sie denn 1984 lesen?"
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Wobei nähen sich ja viel...
Wobei nähen sich ja viel direkter geboten hätte.
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