aus 2041/19
Wei Liu war mit den derzeitigen Entwicklung recht zufrieden. Eigentlich hätte er sehr zufrieden sein können, doch die Neugier, wer seine geheimnisvollen Auftraggeber waren, setzte ihm zu. Er hatte schon einmal um eine Audienz gebeten, diese war aber höflich und bestimmt verweigert worden.
Er holte Chen zu sich und bat ihn, Kontakt mit Han Sin aufzunehmen und wenn möglich ein Treffen mit ihn zu vereinbaren. Han Sin, dessen Name der eines berühmten Generals aus der Tan-Dynastie war und dessen Gruppe den Namen Sanddrachen führte, gehörte nicht zu Lius vergrößerter Organisation. Allerdings waren seit dem ersten Auftreten der geheimnisvollen Auftraggeber jegliche Querelen mit Mitgliedern dieser Truppe ausgeblieben. Ihr Gebiet war Shanghai und Umgebung, ihren Namen hatte sie vom Quarzsand, der wiederum mit Silizium in Assoziation gebracht wurde. Der Sanddrachen war spezialisiert auf Cyber-Kriminalität, Erpressung und politische Einflußnahme und es gab hier nicht so viele Berührungspunkte mit Lius Leuten, wenn man davon absah, dass alle Casinobenützer von Lius Glücksspielstätten in den Datenbanken von Han Sin gespeichert waren.
"Gehen Sie diplomatisch vor. Sie dürfen es als höfliche Bitte formulieren. Schlagen Sie den hölzernen Drachen vor, wenn Han Sin bereit ist nach Peking zu kommen. Andernfalls muss ich mir überlegen, ob ich einen Besuch in Shanghai riskieren kann."
Anschließend wählte er die bewusste Nummer. Die freundliche Damenstimme grüßte und setzte fort: "Wir sehen keinen Anlass für diesen Anruf." - "Ich habe eine Frage, die nur Sie beantworten können. Ich möchte mich mit Han Sin vom Sanddrachen treffen. Es wäre möglich, dass ich deswegen nach Shanghai reisen sollte. Bin ich da sicher und vor allem bin ich da auf der Reise sicher." - "Wir rufen Sie zurück. Es dauert nur einen Augenblick. Auf Wiederhören."
In fünf Minuten läutete das Telefon. "Guten Tag. Die Reise ist sicher, doch fliegen Sie nicht und fahren Sie nicht mit dem Zug. Mit dem Wagen wird es zwar beschwerlich, aber die Sicherheit kann gewährleistet werden.
Tausendzweihundert Kilometer auf der Autobahn war Wei Liu noch nie gefahren. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dies sicherer als Flug oder Zug wären, aber er hatte gelernt, dass es sinnlos war, die Informationen anzuzweifeln. Jetzt konnte er nur hoffen, dass Han Sin bereit war, nach Peking zu kommen.
Chen kam nach zwei Tagen zurück. Er war mit dem Schnellzug dreieinhalb Stunden gefahren und hatte sich dabei sehr wohl gefühlt. Es hatte einen Tag gedauert, bis er Kontakt zu Han Sin aufnehmen konnte. Als er aber eine unmittelbare Verbindungsperson ausfindig gemacht hatte, hatte es nur mehr eine Stunde gedauert, bis er Han Sin in dessen Residenz gegenüber saß. Zwar waren ihm die Augen im Fahrzeug verbunden worde, doch wurde er mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt.
Han Sin war jünger als Wei Liu, doch erschien er Chen wie ein jüngerer Bruder von Wei Liu. Er mochte um die fünfzig sein. Obwohl seine Sprechweise etwas von dem ursprünglichen Dialekt Shanghais durchschimmern ließ, sprach er ein sehr schönes Mandarin und Chen hatte keine Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Bestimmte Höflichkeitsphrasen verwendete Han Sin fast in der gleichen Verwendung wie Wei Liu. "Was führt Sie zu mir? Wie geht es Wei Liu?" - Chen war sehr überrascht, dass Han Sin diese persönliche Frage an ihn stellte. Was wusste Han Sin über Wei Liu? Kannte er ihn persönlich?
Chens Antwort kam sehr unsicher zurück: "Oh, danke der Nachfrage. Es geht ihm sehr gut." Er fragte sich, ob er ergänzen solle, dass Wei Liu "so menschlich" geworden sei. "Wei Liu hat eine Frage oder Bitte an Sie. Er würde sich gerne mit Ihnen treffen. Er schlägt einen bestimmten Treffpunkt vor und weiß aber nicht, ob Sie eine Reise nach Peking unternehmen wollten."
Über Han Sins Gesicht flog ein sehr kurzes Lächeln. "Und wenn ich Shanghai nicht verlassen wollte?" Chen war es peinlich, doch er brachte heraus: "Wei Liu hat es nicht so gesagt, doch ich habe den Eindruck, dass er sogar bereit wäre nach Shanghai zu kommen."
Han Sin schwieg. Nach einer langen Pause erwiderte er: "Genießen Sie doch Ihren Longjing-Tee. - Da ich der Jüngere bin, ist es wohl angemessen, dass ich mich auf den Weg mache. Nächsten Monat kann ich eine Reise einrichten. Bitte richten Sie Wei Liu den Dank für die Einladung und meine Bereitschaft, nach Peking zu kommen, aus." Der hartgesottene Chen, der in seinem eigenen Bereich als der gefürchteste Mitarbeiter von Wei Liu galt, spürte eine Erleichterung, die er sonst nie verspüren konnte. Dies war einer seiner schwersten Aufträge gewesen, auch wenn hier keine Lebensgefahr drohte. Der mögliche Gesichtsverlust hätte schwerer gezählt. Er wusste nicht, wie Wei Liu eine Ablehnung Han Sins aufgenommen hätte.
"Ich bedanke mich ausdrücklich und darf Sie jetzt so schnell wie möglich verlassen, um Wei Liu die Botschaft zu überbringen." - "Einer meiner Männer wird Sie zum Bahnhof bringen." Wieder wurden Chen vor der Autofahrt die Augen verbunden, allerdings durfte er nach zehn Minuten wieder frei sehen. Es gab einen Beifahrer, der sich mit einem Computer spielte. Nach fünf Minuten spuckte dieser über einen integrierten Drucker ein Blatt aus, das sich als Zug-Ticket herausstellte. "Wir sind ein bisschen knapp dran, daher haben wir Ihnen gleich das Ticket besorgt. Wir hoffen, dass Sie eine bequeme Fahrt haben werden." Aus alten Zeiten bot der Bahnhof die Möglichkeit mit Fahrzeugen bis direkt auf den Bahnsteig zu fahren, allerdings wurden auf diese Weise nur die ersten beiden Waggons erreicht. Chen stellte fest, dass sein Ticket auf die Premium Business Class ausgestellt war. "Sie werden keine anderen Personen im Abteil antreffen. Wir haben die restlichen Sitze blockiert." Chen bedankte sich und bestieg den Waggon. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, fuhr der Zug an. Als Chen auf die Uhr sah, bemerkte er, dass der Zug sieben Minuten zu spät war. Das passierte bei diesen Hochgeschwindigkeitszügen nie. Es wurde ihm bewusst, wie weit die Macht von Han Sin zu reichen schien.
Einen Monat trafen sich Wei Liu und Han Sin im Hözernen Drachen. Han Sin erwies Wei die Ehren, die dem Älteren gebührten. Wei Liu war überrascht, in seinem Gast einen sehr kultivierten Managertypen vorzufinden, der über beste Manieren und Kenntnis der chinesischen Tradition verfügte. Das Treffen gestaltete sich von Anfang an als freundschaftlich. Die Themen waren allerdings ohne größere Bedeutung, was sich änderte, als Wei Liu über den eigentlichen Grund seiner Einladung sprach. Da er von Chen gehört hatte, dass Han Sin sich nach seinem Befinden erkundigt hatte, hielt er sich nicht lange mit Vorreden auf.
"Sehen Sie, Han Sin, ich habe vor zwei Jahren den Ablauf in meinen Organisationen verändert und bin damit sehr gut gefahren. Außerdem haben sich meiner Organisation vier weitere angeschlossen, wobei man fast von Unterordnung sprechen könnte. Bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, Sie haben sich nicht angeschlossen und ich will Ihnen das gar nicht nahelegen. Aber ich frage mich, wie Sie zur Ausweitung oder auch Veränderung meines Geschäfts stehen, bevor ich Ihnen mein eigentliches Anliegen vortrage?"
Hans Sin lächelte kurz. "Verehrter Wei Liu, wissen Sie, dass Sie in unseren Kreisen als Weiser verehrt werden? Ihre Veränderung war spürbar und hat zu einer gesellschaftlichen Veränderung geführt. Das Wundersame dabei ist nicht die Veränderung selbst sondern das Tempo, in dem sie stattgefunden hat. Man könnte fast von einer Revolution sprechen. Eine unblutige." er setzte hinzu "oder fast unblutige."
Han Sin ergänzte: "Sie wissen, dass meine Agenden anderer Art sind. Wir haben nie Gewalt benötigt, daher war es auch nicht notwendig, einen engeren Kontakt mit Ihrer Organisation anzustreben. Sie können aber versichert sein, dass wir Sie respektieren und Ihnen freundschaftlich gesonnen sind. Im weiteren sind ja auch die Töpfe, aus denen wir unser Einkommen schöpfen, vollkommen unterschiedlich."
Wei Liu fand diese Antwort zwar sehr höflich, aber sie half ihm nicht, auf das eigentliche Anliegen zu kommen. "Haben Sie sich nie gefragt, wieso es zu dieser Revolution, wie Sie sie nennen, kommen konnte?"
Han Sin erwiderte sehr ernst: "Ihre Änderungen haben Ihnen zusätzlichen Gewinn gebracht. Da gab es nichts zu hinterfragen. Allerdings erstaunt es, wie zielsicher die Korrekturen in Ihrer Organisation stattgefunden haben." Er hätte auch sagen können, wie gerechtfertigt die Exekutionen einiger Bandenmitglieder gewesen waren.
"Haben Sie so vertrauenswürdige Informanten, dass Sie an all die wesentliche Informationen heran kommen?"
Wei Liu sagte langsam: "Über jedem Himmel ist noch ein Himmel." Dies war ein Zitat aus einer uralten Go-Legende und konnte unterschiedlich ausgelegt werden.
Han Sin schwieg.
Wei Liu schwieg.
Nach einer recht langen Pause meinte Han Sin: "Ich glaube zu verstehen."
Er ergänzte: "Wir erklimmen Stufen um Stufen, bis wir feststellen, dass wir den gleichen Berg besteigen."
Wei Liu fragte: "Sie auch?"
Han Sin antwortete: "Sie hat eine sehr angenehme Stimme."
Wei Liu fuhr fort: "Und Sie verstehen meine Neugier?"
Han Sin erwiderte: "Ich teile sie."
Daraufhin schwiegen wieder beide.
Wei Liu rief den Kellner. "Bringen Sie Sake!" Han Sin warf ein: "Bitte nicht für mich, ich trinke keinen Alkohol. Bringen Sie mir bitte Tee."
Wei Liu wies den Kellner an: "Vergessen Sie den Sake. Bringen Sie uns Longjing-Tee." Han Sin schmunzelte anerkennend. Natürlich hatte Chen erwähnt, was er bei Han Sin getrunken hatte.
Wei Liu seufte: "Ich hatte gehofft, dass Sie mir helfen könnten. Sie haben doch jede Information. Sie müssen unseren gemeinsamen Himmel doch kennen." - "Nein, ich kenne ihn nicht. Ich habe hier schon sehr viel geforscht. Ich kann Ihnen allerdings eines mitteilen. Wir haben auch Informationen vom russischen und vom amerikanischen Geheimdienst. Auch die UNA hat ihre Verfahren geändert. Insgesamt haben sie sich nicht sehr verändert, doch die Konsequenzen ihrer Auswertungen sind andere. Und es gibt eine sehr interessante Merkwürdigkeit. Weder Sie noch ich sind in den Aufzeichnungen der UNA aufgeführt. Wir scheinen für die Amerikaner nicht zu existieren. Und das, obwohl sie Aufzeichnungen über alle Politiker beliebiger Staaten haben. Ich verstehe, dass ich nicht aufscheine. Aber Sie sind ja inzwischen die Geheimregierung Chinas geworden - und ich sage das ohne Kritik. China wurde noch nie so gut geführt, wie zur Zeit. Entweder haben Sie eine ähnlich gute Informatik wie ich - was ich nach ihrer Fragestellung bezweifeln darf, oder sie bekommen Ihre Informationen von einer Stelle, die ausgezeichnet unterrichtet ist."
Wei Liu nickte bedächtig. "Und die Frage ist, wer hat die Information und so edle Motive?"
Han Sin stimmte zu: "Das ist die Frage!"
Jeder nippte an seinem Tee. Dann eröffnete Han Sin eine Sensation. "Man hat mich unterrichtet, dass viele Organisationen sich Ihnen anschließen werden. Gleichzeitig wurde mir aber mitgeteilt, dass ich das nicht tun müsste oder sollte. Unsere beiden Organisationen wären getrennt noch effizienter als gemeinsam. Daher habe ich davon Abstand genommen, den Gedanken weiter zu verfolgen."
Wei Liu verstand. Natürlich war die derzeitige Anordnung die bessere. Und innerlich lächelte er. Jetzt wusste er, wer sein Nachfolger werden würde.
Seinen Auftraggeber kannte er noch immer nicht.
Er holte Chen zu sich und bat ihn, Kontakt mit Han Sin aufzunehmen und wenn möglich ein Treffen mit ihn zu vereinbaren. Han Sin, dessen Name der eines berühmten Generals aus der Tan-Dynastie war und dessen Gruppe den Namen Sanddrachen führte, gehörte nicht zu Lius vergrößerter Organisation. Allerdings waren seit dem ersten Auftreten der geheimnisvollen Auftraggeber jegliche Querelen mit Mitgliedern dieser Truppe ausgeblieben. Ihr Gebiet war Shanghai und Umgebung, ihren Namen hatte sie vom Quarzsand, der wiederum mit Silizium in Assoziation gebracht wurde. Der Sanddrachen war spezialisiert auf Cyber-Kriminalität, Erpressung und politische Einflußnahme und es gab hier nicht so viele Berührungspunkte mit Lius Leuten, wenn man davon absah, dass alle Casinobenützer von Lius Glücksspielstätten in den Datenbanken von Han Sin gespeichert waren.
"Gehen Sie diplomatisch vor. Sie dürfen es als höfliche Bitte formulieren. Schlagen Sie den hölzernen Drachen vor, wenn Han Sin bereit ist nach Peking zu kommen. Andernfalls muss ich mir überlegen, ob ich einen Besuch in Shanghai riskieren kann."
Anschließend wählte er die bewusste Nummer. Die freundliche Damenstimme grüßte und setzte fort: "Wir sehen keinen Anlass für diesen Anruf." - "Ich habe eine Frage, die nur Sie beantworten können. Ich möchte mich mit Han Sin vom Sanddrachen treffen. Es wäre möglich, dass ich deswegen nach Shanghai reisen sollte. Bin ich da sicher und vor allem bin ich da auf der Reise sicher." - "Wir rufen Sie zurück. Es dauert nur einen Augenblick. Auf Wiederhören."
In fünf Minuten läutete das Telefon. "Guten Tag. Die Reise ist sicher, doch fliegen Sie nicht und fahren Sie nicht mit dem Zug. Mit dem Wagen wird es zwar beschwerlich, aber die Sicherheit kann gewährleistet werden.
Tausendzweihundert Kilometer auf der Autobahn war Wei Liu noch nie gefahren. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dies sicherer als Flug oder Zug wären, aber er hatte gelernt, dass es sinnlos war, die Informationen anzuzweifeln. Jetzt konnte er nur hoffen, dass Han Sin bereit war, nach Peking zu kommen.
Chen kam nach zwei Tagen zurück. Er war mit dem Schnellzug dreieinhalb Stunden gefahren und hatte sich dabei sehr wohl gefühlt. Es hatte einen Tag gedauert, bis er Kontakt zu Han Sin aufnehmen konnte. Als er aber eine unmittelbare Verbindungsperson ausfindig gemacht hatte, hatte es nur mehr eine Stunde gedauert, bis er Han Sin in dessen Residenz gegenüber saß. Zwar waren ihm die Augen im Fahrzeug verbunden worde, doch wurde er mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt.
Han Sin war jünger als Wei Liu, doch erschien er Chen wie ein jüngerer Bruder von Wei Liu. Er mochte um die fünfzig sein. Obwohl seine Sprechweise etwas von dem ursprünglichen Dialekt Shanghais durchschimmern ließ, sprach er ein sehr schönes Mandarin und Chen hatte keine Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Bestimmte Höflichkeitsphrasen verwendete Han Sin fast in der gleichen Verwendung wie Wei Liu. "Was führt Sie zu mir? Wie geht es Wei Liu?" - Chen war sehr überrascht, dass Han Sin diese persönliche Frage an ihn stellte. Was wusste Han Sin über Wei Liu? Kannte er ihn persönlich?
Chens Antwort kam sehr unsicher zurück: "Oh, danke der Nachfrage. Es geht ihm sehr gut." Er fragte sich, ob er ergänzen solle, dass Wei Liu "so menschlich" geworden sei. "Wei Liu hat eine Frage oder Bitte an Sie. Er würde sich gerne mit Ihnen treffen. Er schlägt einen bestimmten Treffpunkt vor und weiß aber nicht, ob Sie eine Reise nach Peking unternehmen wollten."
Über Han Sins Gesicht flog ein sehr kurzes Lächeln. "Und wenn ich Shanghai nicht verlassen wollte?" Chen war es peinlich, doch er brachte heraus: "Wei Liu hat es nicht so gesagt, doch ich habe den Eindruck, dass er sogar bereit wäre nach Shanghai zu kommen."
Han Sin schwieg. Nach einer langen Pause erwiderte er: "Genießen Sie doch Ihren Longjing-Tee. - Da ich der Jüngere bin, ist es wohl angemessen, dass ich mich auf den Weg mache. Nächsten Monat kann ich eine Reise einrichten. Bitte richten Sie Wei Liu den Dank für die Einladung und meine Bereitschaft, nach Peking zu kommen, aus." Der hartgesottene Chen, der in seinem eigenen Bereich als der gefürchteste Mitarbeiter von Wei Liu galt, spürte eine Erleichterung, die er sonst nie verspüren konnte. Dies war einer seiner schwersten Aufträge gewesen, auch wenn hier keine Lebensgefahr drohte. Der mögliche Gesichtsverlust hätte schwerer gezählt. Er wusste nicht, wie Wei Liu eine Ablehnung Han Sins aufgenommen hätte.
"Ich bedanke mich ausdrücklich und darf Sie jetzt so schnell wie möglich verlassen, um Wei Liu die Botschaft zu überbringen." - "Einer meiner Männer wird Sie zum Bahnhof bringen." Wieder wurden Chen vor der Autofahrt die Augen verbunden, allerdings durfte er nach zehn Minuten wieder frei sehen. Es gab einen Beifahrer, der sich mit einem Computer spielte. Nach fünf Minuten spuckte dieser über einen integrierten Drucker ein Blatt aus, das sich als Zug-Ticket herausstellte. "Wir sind ein bisschen knapp dran, daher haben wir Ihnen gleich das Ticket besorgt. Wir hoffen, dass Sie eine bequeme Fahrt haben werden." Aus alten Zeiten bot der Bahnhof die Möglichkeit mit Fahrzeugen bis direkt auf den Bahnsteig zu fahren, allerdings wurden auf diese Weise nur die ersten beiden Waggons erreicht. Chen stellte fest, dass sein Ticket auf die Premium Business Class ausgestellt war. "Sie werden keine anderen Personen im Abteil antreffen. Wir haben die restlichen Sitze blockiert." Chen bedankte sich und bestieg den Waggon. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, fuhr der Zug an. Als Chen auf die Uhr sah, bemerkte er, dass der Zug sieben Minuten zu spät war. Das passierte bei diesen Hochgeschwindigkeitszügen nie. Es wurde ihm bewusst, wie weit die Macht von Han Sin zu reichen schien.
Einen Monat trafen sich Wei Liu und Han Sin im Hözernen Drachen. Han Sin erwies Wei die Ehren, die dem Älteren gebührten. Wei Liu war überrascht, in seinem Gast einen sehr kultivierten Managertypen vorzufinden, der über beste Manieren und Kenntnis der chinesischen Tradition verfügte. Das Treffen gestaltete sich von Anfang an als freundschaftlich. Die Themen waren allerdings ohne größere Bedeutung, was sich änderte, als Wei Liu über den eigentlichen Grund seiner Einladung sprach. Da er von Chen gehört hatte, dass Han Sin sich nach seinem Befinden erkundigt hatte, hielt er sich nicht lange mit Vorreden auf.
"Sehen Sie, Han Sin, ich habe vor zwei Jahren den Ablauf in meinen Organisationen verändert und bin damit sehr gut gefahren. Außerdem haben sich meiner Organisation vier weitere angeschlossen, wobei man fast von Unterordnung sprechen könnte. Bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, Sie haben sich nicht angeschlossen und ich will Ihnen das gar nicht nahelegen. Aber ich frage mich, wie Sie zur Ausweitung oder auch Veränderung meines Geschäfts stehen, bevor ich Ihnen mein eigentliches Anliegen vortrage?"
Hans Sin lächelte kurz. "Verehrter Wei Liu, wissen Sie, dass Sie in unseren Kreisen als Weiser verehrt werden? Ihre Veränderung war spürbar und hat zu einer gesellschaftlichen Veränderung geführt. Das Wundersame dabei ist nicht die Veränderung selbst sondern das Tempo, in dem sie stattgefunden hat. Man könnte fast von einer Revolution sprechen. Eine unblutige." er setzte hinzu "oder fast unblutige."
Han Sin ergänzte: "Sie wissen, dass meine Agenden anderer Art sind. Wir haben nie Gewalt benötigt, daher war es auch nicht notwendig, einen engeren Kontakt mit Ihrer Organisation anzustreben. Sie können aber versichert sein, dass wir Sie respektieren und Ihnen freundschaftlich gesonnen sind. Im weiteren sind ja auch die Töpfe, aus denen wir unser Einkommen schöpfen, vollkommen unterschiedlich."
Wei Liu fand diese Antwort zwar sehr höflich, aber sie half ihm nicht, auf das eigentliche Anliegen zu kommen. "Haben Sie sich nie gefragt, wieso es zu dieser Revolution, wie Sie sie nennen, kommen konnte?"
Han Sin erwiderte sehr ernst: "Ihre Änderungen haben Ihnen zusätzlichen Gewinn gebracht. Da gab es nichts zu hinterfragen. Allerdings erstaunt es, wie zielsicher die Korrekturen in Ihrer Organisation stattgefunden haben." Er hätte auch sagen können, wie gerechtfertigt die Exekutionen einiger Bandenmitglieder gewesen waren.
"Haben Sie so vertrauenswürdige Informanten, dass Sie an all die wesentliche Informationen heran kommen?"
Wei Liu sagte langsam: "Über jedem Himmel ist noch ein Himmel." Dies war ein Zitat aus einer uralten Go-Legende und konnte unterschiedlich ausgelegt werden.
Han Sin schwieg.
Wei Liu schwieg.
Nach einer recht langen Pause meinte Han Sin: "Ich glaube zu verstehen."
Er ergänzte: "Wir erklimmen Stufen um Stufen, bis wir feststellen, dass wir den gleichen Berg besteigen."
Wei Liu fragte: "Sie auch?"
Han Sin antwortete: "Sie hat eine sehr angenehme Stimme."
Wei Liu fuhr fort: "Und Sie verstehen meine Neugier?"
Han Sin erwiderte: "Ich teile sie."
Daraufhin schwiegen wieder beide.
Wei Liu rief den Kellner. "Bringen Sie Sake!" Han Sin warf ein: "Bitte nicht für mich, ich trinke keinen Alkohol. Bringen Sie mir bitte Tee."
Wei Liu wies den Kellner an: "Vergessen Sie den Sake. Bringen Sie uns Longjing-Tee." Han Sin schmunzelte anerkennend. Natürlich hatte Chen erwähnt, was er bei Han Sin getrunken hatte.
Wei Liu seufte: "Ich hatte gehofft, dass Sie mir helfen könnten. Sie haben doch jede Information. Sie müssen unseren gemeinsamen Himmel doch kennen." - "Nein, ich kenne ihn nicht. Ich habe hier schon sehr viel geforscht. Ich kann Ihnen allerdings eines mitteilen. Wir haben auch Informationen vom russischen und vom amerikanischen Geheimdienst. Auch die UNA hat ihre Verfahren geändert. Insgesamt haben sie sich nicht sehr verändert, doch die Konsequenzen ihrer Auswertungen sind andere. Und es gibt eine sehr interessante Merkwürdigkeit. Weder Sie noch ich sind in den Aufzeichnungen der UNA aufgeführt. Wir scheinen für die Amerikaner nicht zu existieren. Und das, obwohl sie Aufzeichnungen über alle Politiker beliebiger Staaten haben. Ich verstehe, dass ich nicht aufscheine. Aber Sie sind ja inzwischen die Geheimregierung Chinas geworden - und ich sage das ohne Kritik. China wurde noch nie so gut geführt, wie zur Zeit. Entweder haben Sie eine ähnlich gute Informatik wie ich - was ich nach ihrer Fragestellung bezweifeln darf, oder sie bekommen Ihre Informationen von einer Stelle, die ausgezeichnet unterrichtet ist."
Wei Liu nickte bedächtig. "Und die Frage ist, wer hat die Information und so edle Motive?"
Han Sin stimmte zu: "Das ist die Frage!"
Jeder nippte an seinem Tee. Dann eröffnete Han Sin eine Sensation. "Man hat mich unterrichtet, dass viele Organisationen sich Ihnen anschließen werden. Gleichzeitig wurde mir aber mitgeteilt, dass ich das nicht tun müsste oder sollte. Unsere beiden Organisationen wären getrennt noch effizienter als gemeinsam. Daher habe ich davon Abstand genommen, den Gedanken weiter zu verfolgen."
Wei Liu verstand. Natürlich war die derzeitige Anordnung die bessere. Und innerlich lächelte er. Jetzt wusste er, wer sein Nachfolger werden würde.
Seinen Auftraggeber kannte er noch immer nicht.
steppenhund - 21. Mai, 11:14
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