9
Okt
2013

Unbeendet, oder ...

An einem ganz gewöhnlichen Mittwoch zu Beginn des Herbstes empfand Stefan die Veränderung der Zeit. Es war ihm, als säße er in einem Auto, welches sich auf dem mittleren Fahrstreifen einer dreispurigen Autobahn befand. Er selbst bewegte sich mit mittlerer Geschwindigkeit im fließenden Verkehr. Die Bewegung symbolisierte den Zeitfluss, innerhalb dessen sein Leben verfloss.
Doch die Zeit hatte sich geteilt. Das äußere Leben steckte in einem tonnenschweren Lastwagen, der sich auf der Kriechspur rechts von ihm langsam den Berg hinaufquälte. Die Veränderungen in seinem beruflichen Umfeld waren noch langsamer. Da stand ein protziger Mercedes am Pannenstreifen und wartete auf Hilfe vom Pannendienst.
Links von ihm huschten sehr rasch überholende Sportwagen an ihm vorbei, die sehr kurz nur in seinem Blickfeld blieben.
Früher hatte Stefan selbst ein solches Fahrzeug gelenkt und hatte die linke Spur nie verlassen. Heute fuhr er ein vernünftiges Fahrzeug, er wusste um seine langsamere Reaktionszeit und es machte ihm Spass, auch etwas von der Umgebung wahrzunehmen. Bis hierher schien alles in Ordnung zu sein, doch Stefan hatte das Gefühl, auf allen Streifen und dem Pannenstreifen gleichzeitig unterwegs zu sein. Abwechselnd spürte er seinen Arsch auf den Fahrersitzen der unterschiedlichen Bewegungsmittel und stellte dabei fest, dass manchmal alle anderen verschwindend langsam dahinkrochen oder auch umgekehrt an ihm vorbeischossen, dass er den Kopf gar nicht schnell genug wenden konnte, um die anderen im Blickfeld zu behalten.
Er versuchte sich zu erinnern, ob er diesen Eindruck schon einmal früher wahrgenommen hatte. Eigentlich musste es doch immer so gewesen sein. Er dachte nach und versuchte den Unterschied zu erkennen. Der bestand darin, dass es ihm früher nichts ausgemacht hatte, die Position zu wechseln. Die einzelnen Veränderungen zwischen den unterschiedlichen Geschwindigkeiten waren wie ihm Spiel, ein Schnippen mit den Fingern. und er war schneller oder langsamer. An jenem ganz gewöhnlichen Mittwoch zu Beginn des Herbstes konnte Stefan den Unterschied diagnostizieren. Er empfand Schmerz, ja sogar Angst bei jedem Wechsel. Er hatte einmal gelesen, dass eines der Symptome eines sich ankündigenden Herzinfarktes Atemnot begleitet von stark zunehmendem Angstgefühl sei. Diese Angst schien präsent zu sein. Eine Angst, dass die Wechsel so schmerzvoll werden würden, dass er den Schmerz nicht mehr aushalten könnte. Er würde einen Infarkt aufgrund des stetig zunehmenden Schmerzes bekommen. Statt wie früher spielerisch je nach Bedarf der Lebenssituation hin und her zu springen, überlegte er jetzt vor jedem Sprung, ob der Zweck den Schmerz rechtfertigen würde, ja ob er den Sprung überleben würde.
Stefan analysierte seine Empfindung und war erstaunt, dass gerade jetzt dieser Zustand eingetreten war. Er hatte eine Überzeugung angenommen, dass das ruhige Fließen auf dem mittleren Fahrstreifen, das sich Anpassen an den unhektischen Bewegungsfluss die richtige Denk- und Lebensweise wäre. Dass es nichts brächte, kurzfristig aufs Gas zu steigen, um beim nächsten Stau dafür umso länger zu stehen. Er benötigte doch den Wechsel zwischen den Spuren nicht mehr.
Er musste aufstehen und danach trachten, rechtzeitig seine Tochter zur Schnellbahn zu bringen. Seitdem jene arbeitete, hatte sich auch für ihn ein geregelter Morgenanfang eingestellt, der ihn nunmehr sehr regelmäßig und viel früher als sonst in der Arbeit erscheinen ließ.
Stefan beobachtete die Leute in der Schnellbahn. Er hatte das Auto am Park and Ride-Parkplatz stehen gelassen, da er die morgendliche Fahrzeit eher zum Lesen oder Arbeiten während der Fahrt nutzen wollte. Da er in der Bahn stehen musste, konnte er nicht seinen Laptop herausholen. Daher versuchte Stefan in den Erscheinungen der ihm sichtbaren Personen zu lesen. Welche Geschichte verbarg sich hinter der Frau? Wo kam sie her? Würde sie einen netten oder einen enervierenden Tonfall haben, wenn sie sprechen müßte? In der Regel flossen diese Vorstellungen nahtlos ineinander über und Stefan hatte bei solchen Gelegenheiten ein Gefühl des Gesamtstatus im Waggon. Obwohl er es nicht wirklich wiedergeben können, hatte er das Gefühl, es mit einer überschaubaren Einheit zu tun zu haben, die man mit einer knappen statistischen Aussage hätte beschreiben können.
An jenem ganz gewöhnlichen Mittwoch im Herbst glaubte er vollständig inkompetent zu sein. Er fragte sich, warum er nicht in der Lage wäre, die vielen Botschaften, die zu ihm geschickt wurden, zu entschlüsseln und sie in ein klares stimmiges Bild einzubringen. Im Radio sang man „Beim Schlafengehen“ von Richard Strauss. Da gab es eine plötzliche Querverbindung zum Begriff des Flows, jenes Thema, mit dem sich Mihàly Csikszentmihàlyi beschäftigt, einer Glückserfahrung, welche zu besonderen Leistungen befähigt. Plötzlich konnte er erkennen, wieviel von diesem Flow er in seinem Leben erfahren hatte. Es gab noch eine Querverbindung, denn zuletzt hatte er vor wenigen Tagen von einem Treffen in Melk erfahren, bei welchem er fast Csiksentmihàlyi persönlich hätte treffen können.* Er hatte davon Abstand genommen, sich zu der Klausur anzumelden. Er konnte es sich zu der Zeit nicht leisten. Solche Einschränkungen betrübten ihn nicht. Er war von Dankbarkeit beseelt, was ihm bereits in seinem Leben gegeben worden war. Für ihn war die Möglichkeit einer solchen Begegnung bereits Anlass für die Beschäftigung mit den angenommenen Themen.
Er war der festen Überzeugung, dass alle die Botschaften und Synchronizitäten in ihrer Gesamtheit stimmig waren und eine Gemeinsamkeit aufwiesen, welche die eigentliche Botschaft aufwiesen.
Er war sich nicht darüber im Klaren, dass er selbst als Filter wirkte, der nur stimmige Botschaften als richtig und erkennenswert zuließ. Wenn er allerdings in einer trüben Laune war, konnte er diese Schwachstelle in seiner Glücksüberzeugung schon erkennen.
Stefan konnte flow bei verschiedenen Gelegenheiten erkennen: beim Programmieren, beim Klavierspielen, manchmal auch in Gesprächen, wenn er vollkommen losgelöst andere mit seinem Wortschwall überschwemmte.

HH 2004
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* Waldzell 2004, Melk an der Donau
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abohn - 7. Mai, 09:56
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abohn - 25. Apr, 15:30
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Eigentlich habe ich deinen Sohn erkannt. Der ist ja...
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lamamma - 26. Mär, 15:30
Wobei nähen sich ja viel...
Wobei nähen sich ja viel direkter geboten hätte.
Schwallhalla - 26. Feb, 10:30

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